In der
Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033a 24 –1033b 19
Noch ein Rückblick auf die Privation oder Beraubung – ein
Begriff, der laut Aristoteles wie alle Begriffe in mehreren Bedeutungsnuancen
auftritt. Die wichtigste davon spielt eine Rolle bei der Analyse von
jeglichem Werden. Denn Werden ist ein Übergang von einer positiven Bestimmung
zu einer anderen, welche zunächst gerade nicht gegeben ist, sondern „fehlt“.
Und dieses „Fehlen“ bildet die Lücke oder den Raum, der den Übergang oder das
Werden ermöglicht. Und deswegen sagt Aristoteles, dass jedes materielle Ding
aus Materie und Form und Privation besteht. (Met. XII, 1069b 33; 1070b 22)
Im Abschnitt 8 unterscheidet Aristoteles zwei Anfänge des
Entstehens: das Wodurch, also die Formursache, die mit der Wirkursache
zusammenhängt, und das Woraus, also die Stoffursache. Das Bewirken ist das
transitive Korrelat zum intransitiven Entstehen, welches mit dem „Erleiden“
identisch sein kann. Bewirken (oder herstellen, machen) und Erleiden stehen ja
in der Kategorientafel, zu welcher folglich auch das Entstehen hinzugefügt
werden könnte, denn die Zehnerzahl ist nicht in Erz gegossen.
Gerhard Weinberger erwähnt, dass Bernard Sichère in
seinem Buch Aristote au soleil de l’être (Paris 2017) sagt, Aristoteles
habe die Kategorien von der griechischen Grammatik aus entwickelt. Ich
konkretisiere diese Aussage, indem ich behaupte, die Kategorien hätten ihre
direkten Vorlagen in den Wortarten – die im Griechischen und im Deutschen
ähnlich strukturiert sind.
In der Poetik sind ja die Kapitel 20 und 21
linguistischen Fragen gewidmet und da gibt es auch eine ganz knappe Aufzählung
der Wortarten, welche auf dieses Problem bezogen werden kann: Konjunktion,
Artikel, Nomen, Verb (1456b 20).
Eine etwas vollständigere Auflistung der Wortarten der
deutschen Sprache sieht so aus:
Artikel oder Geschlechtswort, Nomen oder Substantiv oder
Dingwort, Adjektiv oder Eigenschaftswort, Verb oder Zeit- oder Tätigkeitswort,
Adverb oder Umstandswort, Pronomen oder Fürwort, Präposition oder Verhältnis-
oder Vorwort, Konjunktion oder Bindewort, Numerale oder Zahlwort, Interjektion
oder Ausrufewort. Die Nomina bilden die Vorlage für die Kategorie der Substanz,
was ja daran sichtbar wird, dass man statt „Nomen“ auch „Substantiv“ sagt: das
Substantiv ist die für die Substanz zuständige Wortart. Die Adjektive oder
Eigenschaftswörter sind der Kategorie der Qualität zuzuordnen, und die Verben
oder Zeitwörter oder Tätigkeitswörter der Kategorie bzw. Doppelkategorie
Wirken/Erleiden. Neulich haben wir ja gelesen, wie Aristoteles den
Übergang vom Substantiv zum Adjektiv ausdrücklich vorführt und sogar auf eine
paradoxe Spitze treibt, indem er diesen Übergang auch dazu einsetzt, dass aus
einem Demonstrativpronomen ein neues von ihm erfundenes Demonstrativpronomen
entsteht. Zur Beschreibung dieser Vorgänge braucht man nicht esoterische Theorien
– es genügt so ein banaler Begriff wie „Wortart“. Die Lehre von den Wortarten
wurde im 2. Jahrhundert vor Christus zum ersten Mal ausgebaut.
Für die aristotelische Kategorienlehre (oder Ontologie)
ist typisch, dass der Substanz ein Primat zugesprochen wird und daher ist es
wichtig, dass man sich davon eine klare Vorstellung macht. Ich erinnere daran,
dass wir uns im Frühjahr 2016 ausgiebig über die Frage unterhalten haben, wo
denn und wie denn das, was dem aristotelischen Begriff der Substanz entspricht,
real vorkommt. Anhand einiger Stellen im Buch V und im Vorgriff auf Buch VII
wurde die These aufgestellt, dass Aristoteles auf „Substanz“ im pointierten
Sinn mit solchen Pronomina wie „wer“, „du“ oder mit solchen Nomina wie
„Sokrates“, „Kallias“ hindeutet. Und dass er die Seinsmodalität „Substanz“ am
besten in den „Dingen“ realisiert sieht, die wir „Tiere“ oder „Menschen“ nennen
(sofern man sich auf die irdische Realität beschränkt).
Zu meiner Überraschung konnte ich neulich feststellen,
dass der von Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkardt, Franz Wiedmann verfasste dtv-Atlas
zur Philosophie (München 1991), ein Buch, das sich bestimmt nicht zur
Spitzenklasse der Aristoteles-Forschung zählt, die aristotelische
Kategorienlehre in hervorragender Weise darstellt: indem um sein Porträt herum
die zehn Kategorien jeweils mit einer auf Aristoteles (als Person) bezogenen
Angabe angeschrieben sind. Substanz: Aristoteles, Qualität: Philosoph,
Relation: Lehrer des Alexander – usw.
Derartige Substanzen sind entstanden und sie sind
vergänglich. Wie eine eherne Kugel. Doch die Form oder das
Was-es-ist-dies-zu-sein, das entsteht nicht – es entsteht nicht „an sich“,
sondern „in einem anderen aufgrund von Kunst oder Natur oder Vermögen“
(1033a 5ff.). Man macht, dass die Kugel ehern ist, „man macht sie da hinein“,
indem man die Kugelform mit dem Erzmaterial verbindet. Jede Entstehung ist eine
Verbindung aus zwei Voraussetzungen – eine davon ist die unentstandene Form,
nach der das Entstandene benannt wird, nämlich Kugel; die andere ist das
Material, nach dem das Entstandene ebenfalls benannt wird, aber adjektivisch.
(1033a 9ff.)
Heißt das nun, dass die Form „ewig“ ist? Sophia Panteliadou
hält diese Bezeichnung für unpassend, weil sie sie an die „Ewigkeit“ im
christlichen Sinn erinnert. Näher liegt eine mögliche Ähnlichkeit mit der
platonischen Lehre von den „Ideen“, die mit den aristotelischen Formen oder
Wesen tatsächlich eng verwandt sind und ausdrücklich als ewig bezeichnet
werden. Der Unterschied dürfte sich so fassen lassen: die aristotelischen
Formen sind unentstanden und unvergänglich, existieren aber an sich nur
gewissermaßen virtuell (und zwar in allen Menschenseelen!). Real existieren sie
nur unselbständig in Verbindung mit Stoff als Wesensbestandteile von
vergänglichen Körpern. Diese Körper konstituieren sie, „koproduzieren“ sie, sie
machen sie zu dem, „was“ sie sind.
Die protagonistischen Vertreter der Formen sind also die Seelen,
worauf ich in dem Aufsatz „Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus ... Eine
postaristotelische Glosse“ hingewiesen habe.
Walter Seitter
Sitzung vom 21. Februar 2018
Nächste Sitzung am 28. Februar 2018