τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 3. Dezember 2015

In der Metaphysik lesen (1022a 4 – 13)

Vor der Seminar-Sitzung habe ich in der Herrengasse 5 (wo am 14. Oktober meine erste Grillparzer-Lesung stattgefunden hat) in einer vom Außenministerium getragenen Veranstaltung eine kleine Betrachtung über die Nähe zwischen Poesie und Religion angestellt. Den direkten Anlaß bildete das Gedicht „Stirb nicht wie sie“ von Shumisa Al Numani (Oran); eine zusätzliche Inspiration lieferte mir Grillparzers Satz „Religion ist die Poesie der Poesielosen“. Meine These: die heiligen Schriften der Religionen sind Dichtungen und daher können sie auch weitergedichtet werden. Die meisten mir bekannten Religionen verdrängen diese Tatsache – was den Umschlag in Fanatismus erleichtert. Die seinerzeitige griechische Religion indessen hat ihre Herkunft von Homer und Hesiod nicht ganz vergessen.

Meine anschließende These: eben jene einzigartige kulturelle Situation hat das Aufkommen der Philosophie ermöglicht – Philosophie als mit der Religion konkurrierende Orientierungsweise, die von den Wissenschaften herkommt.

Mit diesen Thesen stelle ich mich in die Nähe der deutschen Philhellenen Martin Heidegger und Friedrich Kittler – ohne ihnen gänzlich folgen zu müssen. Aber die aktuelle weltpolitische Lage, in der die sogenannten abrahamischen Religionen Problemlieferanten sind, erfordert auch Denkschritte, die über eine derzeit modische – und nicht angstfreie – Religionsbegeisterung hinausführen.

Und daher Aristoteles lesen. Wir sprechen darüber, dass wir uns mit dem Aristoteles-Lesen eher ins Abseits bewegen. Seit dem 19. Jahrhundert wird er nur „ausnahmsweise“ ernstgenommen. Zwar haben Hegel und Heidegger ihn ernsthaft studiert, kamen aber schließlich zum Ergebnis, ihn vollends „überwunden“ zu haben: der eine mit seiner irrationalistischen „Dialektik“, der andere mit seiner esoterischen Lehre vom „Seyn“. Andererseits hat auch die technologische Grundeinstellung der modernen Naturwissenschaft die aristotelische nämlich deskriptive Wissenschaftsauffassung marginalisiert (obwohl diese ebenfalls stark naturwissenschaftlich ausgerichtet ist).  

Bernd Schmeikal schreibt heute mit einer gewissen Scharfsichtigkeit zum Buch V: „Es scheint sich um einen Versuch zu handeln, die Dinge des Lebens mitsamt unseren Handlungen, ihre Grenzen, Vollkommenheit, Tüchtigkeit, Ziele‚ Ordnung, Haltung und Disposition – um den ganzen Ball von Begriffen herzurollen bzw. aufzulisten – mit einer Topologie zu versehen, systemisch, im Sinne von Teilsein und Teilhabe, Form und Wesen zu verstehen. Die Konstruktion läßt sich im Sinne des damaligen Denkens verstehen, ist aber falsch. Das ganze teleologische Gebilde mit seiner quasi topologischen Begrenzung, seinen extremalen Zonen, - die Ziele als Äußerstes, - seinen wesenhaften Erscheinungsformen ist (schlicht und ergreifend) in einem etwas weiteren Sinne: unsinnig.“

Doch mit Aristoteles verzichtet man darauf, parmenideisch zu sagen: was nicht vollkommen ist, ist nicht existierend – oder zumindest nicht der Rede wert. Man verzichtet darauf, die gewöhnlichen Wissen für unphilosophisch zu halten. Etwa solche wie, dass ein Blatt Papier der Gattung der Quader angehört, oder dass der Superlativ „schlechtest“ vom Positiv „schlecht“ herstammt.

Daher, so meine These, finden sich heutzutage ernsthafte Aristoteles-Rezeptionen gerade bei „analytischen“ Philosophen. Als Beispiel dafür wird von Gianluigi Segalerba (den ich übrigens im Protokoll vom 25. Februar 2015 zitiert habe) genannt: Lowe, E. J.: The Four-Category Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science (Oxford 2006)

Das Beispiel mit dem Quader wurde eingeführt, als wir uns fragten, ob es einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die platonische und die aristotelische Ontologie gebe. Dieser dürfte in der sokratischen, in der penetranten sokratischen „Was ist?“ Frage sowie in der ebenfalls sokratischen Antwort darauf liegen – etwa: Der Mensch ist ein Lebewesen (Gattung) mit solcher oder solcher Artbestimmung. Solche Wesensbestimmungen sind dann von Platon zur sogenannten „Ideenlehre“ ausgearbeitet – soll man sagen gesteigert ? – worden. Aristoteles hingegen hat die schlichte sokratische Frage-und-Antwort zu einer schlichten „Ontologie“ ausgebreitet.

Gianluigi Segalerba vertritt dazu die These, Platon, der athenische Aristokrat, habe aufgrund der Erfahrung des Peloponnesischen Krieges, des Niedergangs von Athen sowie der Hinrichtung des Sokrates in einer Art von politischer Panik gelebt und sich verpflichtet gefühlt, Athen doch noch zu retten. Seine anthropologische Reaktion bestand in der Lehre, der Mensch sei aus drei Lebewesen zusammengesetzt: einem vielgestal†igen Ungeheuer oder Monster, einem siegessüchtigen Löwen und einem verständigen Menschen (welcher auch die äußere Gestalt liefert). Je nach dem, welches der drei Lebewesen die Oberhand gewinnt, falle das Verhalten der Menschen und dementsprechend der politische Zustand aus.[1] Und deswegen habe Platon seinem Realitätsverständnis eine quasireligiöse Verbindlichkeit aufgeladen, die er mit Gleichnissen und Mythen instrumentiert hat (womit wieder das Verhältnis von Poesie und Religion aufgeworfen wird). Es handle sich bei Platon und bei Aristoteles um zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen oder Erkenntnispolitiken – die man einander nicht ohne weiteres als „wahr“ oder „falsch“ entgegensetzen könne.

Die Lektüre des 17. Abschnitts über peras (Grenze, Ende, Äußerstes) ist schwierig, denn das Wort hat viele Bedeutungen (nicht aber: Grenzlinie). Es steht auch für den Allgemeinbegriff, der Ende und Anfang bedeutet – womit die Brücke zum ersten Stichwort dieses „Wörterbuchs“ geschlagen ist. Begrenztheit, Bestimmtheit. Gegenbegriff zu apeiron – unendlich, grenzenlos, unbestimmt. Aristoteles hegt diesem Begriff gegenüber große Vorbehalte: aktual, substanziell gibt es das Unendliche nicht, eher nur potenziell. Insofern ist peras trotz einer gewissen Vieldeutigkeit ein Leitbegriff für Aristoteles – und eben deswegen vieldeutig, besser vielortig, weil der Begriff „überall“ gebraucht wird, um das Drohen der Unendlichkeit, der totalen Offenheit aufzuhalten. Mir kommt jetzt die momentane Situation Europas in den Sinn ... Für die Griechen war das Meer, insonderheit der allerdings sehr ferne Ozean, eine mögliche und gefürchtete Realisierung des Unendlichen. Und jede Küste, ja jeder Felsenriff, ein Anhaltspunkt dagegen ... Ein umgangssprachliches Synonym für peras ist terma – das uns im lateinischen terminus sozusagen näher ist.

Nach der Seminarsitzung hat Ivo Gurschler am IFK den Vortrag „Religiosität und Subjektbildung – Figurationen in Literatur und Kultur der Gegenwart“ von Nadjib Sadikou gehört. Darin ging es um Literatur (Roman, Poesie) als Medium der Subjektivierung, Transformierung, Pluralisierung von Religion, das gegen den Fanatismus wirken könne. Phänomene, die an die eingangs erörterte These denken lassen.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 26. November 2015



[1] Siehe Platon: Politeia, IX, 588c ff.

2 Kommentare: