τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. Mai 2015

In der Metaphysik lesen (1017b 26 – 1018a 12)

Erstaunlich, dass der Abschnitt 8, der die Hauptkategorie „Wesen“ behandelt, von allen bisher gelesenen (im Buch V) der kürzeste ist. Andererseits liefert er in knapper Form aufschlussreiche Klarstellungen zu seinem Thema.

Der Abschnitt 9 folgt ebenso dem Schema „a legetai x und y ....“. Für a werden hier mehrere Qualitäten eingesetzt: tauta, hetera, diaphora, homoia, anomoia. Bestimmungen, die uns umgangssprachlich vertraut sind, deren logischer Status jedoch nicht leicht anzugeben ist.

Dasselbe (genauer: dieselben) im akzidenziellen Sinn liegt (liegen) dann vor, wenn mehrere Bestimmungen, darunter mindestens eine akzidenzielle, von einander ausgesagt werden. So sind z. B. „französisch“ und „dunkelrot“ dieselben, wenn beide Eigenschaften – zufällig - einem Buch zukommen. Eine ziemlich schwache Selbigkeit, weil die beiden Begriffe miteinander eigentlich nichts zu tun haben; sie treffen sich nur – hier und jetzt – in einem Dritten, das  ebenso gut andere Eigenschaften haben könnte. Nur die Allgemeinheit „Buch“ kommt irgendeinem Buch an sich zu (Heidegger: irgendeinem Buch an ihm selber (was hier sogar sprachlich exakter ist)).

Andere Selbigkeiten decken sich mit „Einheit“ – die im Abschnitt 6 Thema war und auf unterschiedlichen Gründen beruhen kann. In 1018a 7 bildet Aristoteles die beiden Begriffe „Selbigkeit“ und „Einheit“ und identifiziert sie so weit, dass er sagt, dass die Selbigkeit eine Einheit von mehreren ist: also eine schwächere Einheit bzw. in gewissem Sinn eine stärkere Einheit, da sie sogar Nicht-Eine zu einen vermag. Unter den Nicht-Einen kann sogar ein ganz und gar Eines sein, das ausgerechnet durch die Identifizierung mit sich selber logisch entzweit wird: es ist identisch mit sich (Heidegger würde die Entzweiung verstärken, indem er die reflexive Form vermeidet: identisch mit ihm selber).

Der Gegensatz des Selben ist das Verschiedene (oder das andere) und verschieden bzw. anders können Dinge wieder aus mehreren Gründen bzw. in mehreren Hinsichten sein: Form, Stoff ....

Unterschieden sind solche Dinge, die selbe sind und nur aufgrund von Formbestimmungen verschiedene. Die Unterschiedenen bilden also eine Teilmenge der Verschiedenen (anderen).

Die Gleichheit mehrerer Dinge wird merkwürdigerweise auf gemeinsame Akzidenzien zurückgeführt: gleiche Erleidungen, gleiche Qualität, gleiche akzidenzielle Veränderungen (zwischen Gegensätzen). Und entsprechend die Ungleichheiten.

Diese Ausführungen machen den Eindruck, dass Aristoteles viele Differenzierungen miteinander kombinierbar macht. Es gibt ja nicht nur die zehn Kategorien, sondern noch ein paar weitere Grundbegriffe (Stoff, Gattung, Veränderungen ...), die Hinsichten für Differenzierungen bieten.

Keine Theorie von „der“ Identität oder Differenz. Und wenn es bei Aristoteles auch so etwas wie Distinguierung und Diskriminierung geben sollte, also aufwertende und abwertende Differenzierungen, so werden auch die durch die vielen Hinsichten hindurch müssen.
                 

Walter Seitter


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Sitzung vom 27. Mai 2015 

Mittwoch, 20. Mai 2015

In der Metaphysik lesen (1017b 17 – 26)

Im letzten Protokoll habe ich geschrieben, da Aristoteles die Substanzen weitgehend mit den Körpern gleichsetzt (aber nur extensional, nicht intensional) bekomme seine Ontologie eine „materialistische Schlagseite“. Eine etwas unvorsichtige Ausdrucksweise, weil die auf der Logik aufbauende Ontologie jenseits von Eigenschaften wie „körperlich“, „seelisch“ oder dergleichen operiert. Dennoch können „moderne“ philosophische Theoreme auch auf die Ontologie (im aristotelischen Sinn) bezogen werden. Und zwar auch dann, wenn sie das Wort „Ontologie“ gar nicht verwenden. Der Begriff „Intensität“ von Gilles Deleuze etwa würde sich dazu eignen. Intensität ist eine pure Seinsmodalität, die in allen möglichen Realitätsbereichen eine Rolle spielen kann (auch in psychischen). Eine ontologische Kategorie, die auch mit „Wesen“ wenig zu tun hat. Eher schon mit der „Überkategorie“ seiend = wirklich = real. Ontologische Begriffe haben etwas Formalistisches.

Für die These, dass auch die Teile von Wesen als Wesen gelten können, wird das Argument angeführt, dass bei Wegfall von Teilen das Ganze wegfällt. Also die Abhängigkeit des Ganzen von Teilen. Eine merkwürdige Umdrehung, denn für die Akzidenzien gilt, dass sie nur Akzidenzien sind, weil sie vom Wesen abhängen. Aber da unterscheidet Aristoteles stark zwischen Teilen und Akzidenzien. Obwohl die Teile ja ebenfalls vom Ganzen abhängen – doch da wird die Abhängigkeit reziprok gesehen.

Eine gewisse reziproke Abhängigkeit zwischen Wesen und Akzidenzien ist uns allerdings auch schon gelegentlich untergekommen (sogar bei Aristoteles – siehe Poetik).

Mit dem Doppelbeispiel Lebewesen – Seele sollten die beiden Versionen von ousia, Substanz, Wesen ein für alle Mal klargestellt sein. Erfreulicherweise spricht Aristoteles nicht nur von „der anderen Version“, sondern auch von „den beiden Versionen“ (1017b 15, 23).

Daß die Zahlen als Substanzen gelten, wird als Meinung referiert, aber eher abgelehnt. Die allerletzten Sätze dieses Abschnittes fassen zusammen – ich würde sagen: etwas konfus. Aber sie führen zusätzliche Begriffe ein, was natürlich hilfreich ist.


PS.: Am Samstag, dem 30. Mai 2015, um 11.45 – 12.45,
spricht Christophe Ehrismann, den ich vor einiger Zeit mit einem Satz von Eriugena herbeizitiert habe, über die Geographie der Logik:


Ort: Institut für Byzantinistik, Postgasse 7, 1010 Wien


Walter Seitter


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Sitzung vom 20. Mai 2015 

Donnerstag, 14. Mai 2015

In der Metaphysik lesen (1017b 10 – 16)

War „das Seiende“ der transkategoriale Gegenstand der im Buch IV sozusagen begründeten Ontologie sowie des letzten Abschnittes, wird nun die ousia, also die erste Kategorie (und deren Signifikat) zum Thema.

Welche Entitäten können als ousiai gelten? Sind es etwa sogenannte „metaphysische“? Aristoteles’ Antwort ist klipp und klar: es sind in erster Linie physische. Es sind die Körper, die das Gegenstandsfeld der Physik ausmachen. Als ich mich am 22. April zur These durchrang, die uns bekannten Substanzen oder Wesen seien die Körper, wusste ich nicht von der jetzt gelesenen Stelle 1017b 10ff., wo Aristoteles den Umfang des Begriffs „Substanz“ mit der Körperwelt identifiziert (die er allerdings nicht ganz eng fasst). Zuerst nennt er die Elemente, also die Grundstoffe Erde, Wasser usw. Dann die empirisch vorkommenden Körper anorganischer Art, dann die daraus bestehenden Lebewesen, zu denen auch die nicht extra erwähnten Menschen gehören, sowie die erwähnten göttlichen Dinge (gemeint sind Himmelskörper). Göttlichkeit und Körperlichkeit schließen sich also nicht aus. Substanzialität und Körperlichkeit schließen sich geradezu ein. Was nicht heißt, dass die beiden Begriffe Synonyme sind. Sie liegen auf unterschiedlicher Ebene. „Körper“ ist ein physikalischer Begriff (und er bleibt das mindestens bis Newton). Bezieht man die Elemente Feuer bzw. Licht sowie Äther ein, bleibt er es wohl bis heute. „Substanz“ ist ein logisch-ontologischer Begriff. Weil die Physik bei Aristoteles eine Basis-Wissenschaft ist, bekommt seine Ontologie eine ziemlich „materialistische“ Schlagseite. Die anderen Basis-Wissenschaften wie Ethik und Politik haben es mit den Menschen zu tun – die ebenfalls „Lebewesen“ und „Körper“ sind.

Jedenfalls wird der Substanz-Begriff ordentlich entmystifiziert – und das entspricht genau dem Duktus, dem diese Aristoteles-Lektüre folgt.

Für uns nicht leicht nachvollziehbar die Feststellung, auch die Teile, ja die Teilchen der Körper, seien Substanzen. Daß sie zu der jeweiligen Substanz des ganzen Körpers gehören, macht keine Schwierigkeit: in diesem Sinn haben wir ja die Muttermilch zur Mutter-Substanz gerechnet. Aber dass die Teile als Teile selber gleichberechtigte Substanzen sind? Wo sie doch eher nicht selbständig existieren können. Beim Apfel ist die Sache wiederum verständlich. Wenn er vom Baum getrennt ist, kann er als Ding einen guten Eindruck machen. Und da er Samen enthält, ist er der Möglichkeit nach bereits ein neuer Apfelbaum (oder sogar mehrere Apfelbäume).

Als nächstes wird ein ganz anderes Kriterium für „Substanz“ genannt: ein rein logisches, das aus der Linguistik bzw. Grammatik stammt: Substanz ist, was in einem Satz an der Subjekt-Stelle steht – denn vom Subjekt wird etwas (das Prädikat) ausgesagt. Ein schöner theologischer (theographischer) Satz von Karl Kraus verdeutlicht das, indem er gegen die aristotelische Regel verstößt: „O Gott, was bist du für ein Shakespeare!“ „Shakespeare“ wird hier „fälschlicherweise“ als Prädikat eingesetzt, obwohl der Name eine Substanz bezeichnet.

Danach ein anderer tropos, eine anderer Aspekt von Substanz: nämlich die innere Ursache der genannten Substanzen: und zwar die Formursache der Körper. Die Formursache, welche die Artbestimmtheit, das Sosein, die Wesenheit der existierenden Wesen meint. Näherhin greift Aristoteles auf die Lebewesen zurück und bei denen heißt die Formursache „Seele“.

Damit hat Aristoteles die beiden Versionen der ousia mit Begriffen der Umgangssprache benannt: Körper und Seele. Genauer: Lebewesen und Seele. Die Seele stellt keinen Gegensatz zum Körper dar. Sie existiert ja nicht extra, sondern sie qualifiziert, spezifiziert den Körper zu dem, was er jeweils ist: eine Blume, ein Schmetterling oder ein Hund.
Die beiden Versionen der Substanz können wir also exemplifizieren mit: Lebewesen, Seele. Und die Körper, denen wir kein Leben zusprechen, also der Mond oder ein Tisch – auch sie haben ihre Quasi-Seele namens morphe, eidos, energeia, entelecheia. Begriffe, die doch einigermaßen an „Seele“ heranreichen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 13. Mai 2015 

Donnerstag, 7. Mai 2015

In der Metaphysik lesen (1017a 31 – 1017b 9)

Gegenstand dieses Kapitels ist das Seiende, folglich erscheint das Seiende oder aber leichte sprachliche Abwandlungen wie die Sein (Plural) oder das Sein als Subjekt von Sätzen nach dem Schema „to on legetai .....“. Zunächst sind diesem Subjekt die Kategorien zugesprochen worden – und zwar disjunktiv.

Jetzt heißt das Subjekt das „Sein“ oder das „ist“ und von ihm wird gesagt, dass es wahr sei. Und zwar sozusagen automatischerweise, notwendigerweise, scholastisch gesagt konvertiblerweise: alles Seiende ist in dem Maß, in dem es ist, wahr und diese Skala führt auch nach unten in Richtung Nicht-Sein, wo dann das Prädikat „nicht wahr“ lautet. Soweit die ontologische Wahrheit. In der Umgangssprache aber dominiert die logische, die Aussagenwahrheit: eine keineswegs notwendige, nur mögliche, eventuell erwünschte Eigenschaft von Aussagen. Aristoteles nennt die beiden Sorten Bejahung und Verneinung. Es gibt auch viele Aussagen, die nicht wahrheitsfähig sind – zum Beispiel Fragen, Befehle: aber sie implizieren irgendwie wahrheitsfähige Aussagen. Foucault hat in der Archäologie des Wissens das Kunststück fertiggebracht, ein ganzes Buch über Aussagen zu schreiben und den Wahrheitsbezug so gut wie beiseitezulassen (mit dem Parallelbegriff „Wissen“ hat er ihn doch berücksichtigt).

Dann werden dem Sein und Seienden disjunktiv zwei Prädikate zugesprochen: Möglichkeit oder Vollendung, genauer gesagt: der Möglichkeit nach oder der Vollendung (Wirklichkeit) nach. Und als Beispiele (für Sein bzw. Seiendes) werden genannt: sehen(d), Wissen gebrauchen(d), ruhen(d). Meine Vermutung, mit dem Sehen als Beispiel für Sein konzipiere Aristoteles die leibnizianische Konvertibilität „esse est percipere“, ist wohl nicht zutreffend. Das Sehen ist nur ein Beispiel, ebenso die angewandte Wissenschaft oder die Ruhe. Hingegen könnte die Polarität zwischen „möglich“ und „wirklich“ (wofür einmal auch das neugriechische Wort für „existierend“ eingesetzt wird) sehr wohl als Transzendentalie gelten: das Seiende ist weniger oder mehr „vollendend-vollendet“ - womit die Polarität in eine gleitende Skala umformuliert wäre.

Als nächste Substrat-Kategorie für dieselbe Polarität dann die Wesen mit den Beispielen der Entstehung eines Hermes aus bzw. in dem Stein, die kurze Linie in der langen, das reifende Weizenkorn in der Ähre. Artefakt (aus einem bereits herausgeschnittenen Stück Natur), Geometrie, Natur (landwirtschaftlich geförderte Natur).

Walter Seitter


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Sitzung vom 6. Mai 2015