τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 23. April 2015

In der Metaphysik lesen (1016b 31 – 1017a 14)

Die letzten Bemerkungen zu den physischen (besser als: physikalischen) Körpern führen zur Frage, ob es Substanzen gebe, die keine Körper sind. „Physische Körper“, jedenfalls „materielle Körper“ – das sind eigentlich weiße Schimmel. Sind nun alle Substanzen Körper? Im Sinne von Aristoteles ist die Frage zu bejahen (allerdings mit der Einschränkung: innerhalb der uns direkt zugänglichen Welt). Seelen oder Geistern wird da keine substanzhafte Existenz zugeschrieben, Ideen natürlich auch nicht. Dennoch gibt es Fälle, die nicht von vorn herein klar erscheinen. Wir haben uns seinerzeit gefragt, ob die Tragödie als Substanz gelten kann, also eine individuelle Tragödie wie Antigone von Sophokles als ein Wesen im vollen Sinn des Wortes gelten kann. Wenn ja, schließt sich nun die Frage an, ob sie denn ein Körper ist, ob sie ein körperliches, materielles Wesen ist. Ein natürliches Wesen ist sie – natürlich – nicht. Künstliche materielle Entitäten gibt es zweifellos – sie sind aus Bronze oder aus Mehl oder so weiter. Aus was ist die Tragödie? Kapitel 21 und 22 der Poetik geben darauf die Antwort: aus Sprache (die akustisch oder optisch erscheint). Also können Tragödien als artifizielle materielle Substanzen aufgefaßt werden.

Die für materielle Entitäten zuständige Wissenschaft ist die „Physik“ – in dem weiten Sinn, den das Wort bei Aristoteles hat. Obwohl die Poetik zu den poietischen Wissenschaften gehört, hat sie auch Aspekte von Physik.

Wenn alle Substanzen Körper sind, ist die Grundwissenschaft von den Substanzen die Physik. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, gehören dazu auch so etwas wie die Mutter oder der christliche Gott (dies betont ausdrücklich Jacques Lacan im Abschnitt 4 des Kapitels „Barock“ im Seminar XX). Selbstverständlich auch solche Körper wie die Himmelskörper (von denen einige laut Aristoteles ans Göttliche heranreichen).

1016b 31ff. wiederholt noch einmal die verschiedenen Begründungen dafür, dass mehrere Entitäten als Eines gelten können.

„Viele“ kann es geben aufgrund von (räumlicher oder zeitlicher) Diskontinuität oder Stoffzerlegung oder Artenvielfalt.

Der nächste Abschnitt gilt dem Grundwort der Ontologie: dem Seienden. Die berühmte Erklärung in 1003a 33 „to on legetai pollachos“, die anschließend in einer über die Kategorien hinausgehenden Weise expliziert wird, wird jetzt mit einer bipolaren Erklärung aufgenommen: das Seiende wird akzidenziell ausgesagt oder „an sich“, was wohl heißt: akzidenziell oder substanziell (essenziell, wesenhaft). Und es folgt eine Kaskade von vielen einander teilweise wiederholenden, aneinander anschließenden, sich miteinander verkettenden sehr knappen Beispielssätzen, von ungefähr siebzehn Beispielssätzen, in denen nur ungefähr acht Bestimmungen als Subjekte beziehungsweise Prädikate fungieren:

Gerechter ist musisch
Mensch ist musisch
Musischer baut
Baumeister ist musisch
Musischer ist Baumeister
dies ist dies
dies kommt diesem zu
Mensch ist musisch
Musischer ist Mensch
Weißer ist musisch
Musischer ist weiß
Nicht-Weißes ist
sein Substrat ist
..........

Alle diese Aussagen sagen laut Aristoteles Akzidenzielles aus, nämlich einem Subjekt oder Substrat zu; sogar Aussage 9. Ein Vorblick auf die „An-sich-Aussagen“ erweckt den Eindruck, dass auch dort die Akzidenzien-Zusprechungen überwiegen.

Invasion der Akzidenzien?

Walter Seitter


--

Sitzung vom 22. April 2015 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen