τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 31. Januar 2015

PS zu 1015a 3 - 1015a 19

Die zuletzt entworfene Ordnung aus Objektwissenschaft mit zwei zusätzlichen Ebenen: zweite Ebene Metawissenschaft (Linguistik, Logik, Mathematik, Erkenntnistheorie) und dritte Ebene Ontologie (im Sinn von Met. IV) hat mich dazugeführt, die Stelle Met. V, 1015a 6ff., die als objektwissenschaftliche zu sehen ist, auf die dritte Ebene zu heben und darin eine ontologische Aussage zu sehen: das würde eventuell stimmen aber auf einen strikten Materialismus hinauslaufen, den Aristoteles tatsächlich solchen wie Thales von Milet mit seinem universalen Wasser-Prinzip unterstellt. Aber aristotelisch ist eine solche Aussage nicht, eher spricht sie überhaupt gegen einen derartigen Materialismus.

Im Buch IV sahen wir Aristoteles sehr heftig gegen zwei Fehl-Lehren, ja Fehl-Ontologien polemisieren: gegen die der Sophisten und die der Dialektiker. Was diese betrifft, so lassen sie sich als solche betrachten, welche die Dialektik nämlich Diskussionslehre – eine ordentliche Metawissenschaft, direkt zu einer Sachkunde erklären, also zu einer Wissenschaft auf der ersten oder dritten Ebene. Die berühmteste Ausprägung dieser Lehre ist die hegelsche Dialektik, welche die logische Schematik aus These, Antithese, Synthese zum Inbegriff aller Erkenntnise erklärt. Ein Fehlgriff, den Foucault 1975 in Los Angeles sehr deutlich kommentiert hat: „Ich akzeptiere nicht dieses Wort Dialektik. Nein, nein! .... Das Wort 'Widerspruch' hat in der Logik einen bestimmten Sinn ... aber wenn man die Realität betrachtet, so sieht man, dass sie frei von Widerspruch ist. Zum Beispiel in der Natur, da gibt es viele wechselseitige antagonistische Prozesse, aber nicht Widersprüche ... Es gibt keine Dialektik in der Natur, wie Engels gemeint hat ... Dieser Typ hegelscher Formulierung lässt sich nicht aufrechterhalten.“[1]

Bekanntlich hat Sigmund Freud die Psychoanalyse auch als „Metapsychologie“ bezeichnet – aber wohl das antike und nicht das moderne Präfix dabei verwendet. Welche Metawissenschaft (im modernen Sinn) würde zur Psychoanalyse gehören? Hat Freud dazu etwas gesagt?
Jedenfalls hat Lacan dazu etwas gesagt. Negativ: die Psychoanalyse ist keine Psychologie. Positiv: die Linguistik. Weiterhin hat dann Lacan von einer „Logik des Signifikanten“ gesprochen. Logik ist immer Logik der Signifikanten. Und eine weitere Erweiterung auf der Ebene der Metawissenschaft geht dann bei Lacan in Richtung Mathematik, aber weniger in die Mathematik der Zahlen, sondern in die der Orte (Örter): Topologie, Mengenlehre und operativ „Graphographie“: Zeichnen der Matheme.
Neueste Nachricht in Sachen Ontologie: Michael Stadler: Was heißt Ontographie? Vorarbeit zu einer visuellen Ontologie (Würzburg 2015)


Walter Seitter


[1] Michel Foucault: Dialogue sur le pouvoir, in ders.: Dits et écrits III (Paris 1994): 471.

Donnerstag, 29. Januar 2015

In der Metaphysik lesen (1015a 3 - 1015a 19)


Im letzten Protokoll habe ich angedeutet, dass die Ontologie (im aristotelischen Sinn) mit der Metawissenschaft (im modernen Sinn) zusammenhängt, obwohl sie eher als Objektwissenschaft zu gelten hat. Allerdings als Objektwissenschaft auf einer höheren Ebene – im Vergleich zu Physik, auch zu Poetik oder Politik. Die Ebene der Metawissenschaft wird von Aristoteles in den logischen Schriften betreten bzw. realisiert: beginnend mit der Lehre von den Kategorien. Sein Buch Metaphysik beginnt aber auch metawissenschaftlich: Stufen der Erkenntnis – ungefähr Erkenntnistheorie im modernen Sinn – und entwirft ein Programm einer Objektwissenschaft, die sachlich über die schon bekannten Objektwissenschaften hinausgeht: durch Erweiterung des Gegenstandsbereiches in Richtung Gesamtheit bzw. Erstheit. Doch im Buch IV schiebt er eine neue Betrachtungsart ein: Betrachtung des Seienden als Seienden mit dazugehöriger Vielfältigkeit – welche aber nicht zusätzliche Realitätsbereiche erschließen will sondern nur immanente Allgemeinheiten: Kategorienvielfalt und Konvertibilität von Transzendentalien. Diese Bestimmungen ergeben sich aus der Metawissenschaft namens Logik, indem deren formale Bestimmungen „materialisiert“ bzw. direkt „referenzialiert“ werden: Gegenstandsbestimmungen von größter Allgemeinheit oder Formalität. Von anderer Art als „Natur“, „Geist“, „materiell“, „immateriell“.
Die eben genannten Bestimmungen liegen im Feld, das nach Gattungen und Arten gegliedert wird, und sie werden von den Objektwissenschaften erforscht, zu denen wohl auch die aristotelische Metaphysik (im engeren Sinn gehört). Darüber liegt die Ebene der Metawissenschaften: Linguistik, Logik, Erkenntnistheorie. Und noch einmal darüber die Ontologie, welche die Metawissenschaften selber mit Realität auflädt – oder die Logik mit Ontik.
Das kann man theoretisch konstruieren – so oder so ähnlich. Man kann dazu aber auch auf andere Weise gelangen: „okkasionelle“ Ontologie. Indem man im Laufe irgendeiner Sachuntersuchung (Objektwissenschaft) merkt, dass die Ordnung der Kategorien oder der Transzendentalien (von der man schon gehört hat) da nicht stimmt, nicht greift oder anders formuliert werden muß: neue oder „revisionäre“ Ontologie. So etwas haben wir in der Poetik bei Aristoteles selber beobachtet: Auflösung der Hierarchie von Substanz und Akzidenzien. Oder bei Heidegger, der die herkömmliche philosophische (das heißt griechische) Objektwissenschaft für „den Menschen“ als unzulänglich eingeschätzt hat und daher auf die dritte Ebene gesprungen ist: Fundamentalontologie als Anthropologie (doch dieses Wort müsste man jetzt durchstreichen (was mein Computer nicht kann (wenn ich mich nicht täusche))). Oder bei mir in den Menschenfassungen, wo ich die Polarität von Unbestimmtheit und Bestimmungszwang als „Wesen“ eingesetzt habe (und den traditionellen Wesensbegriff zurückstellte); ähnlich Friedrich Balke in seinem Nachwort. Die Gegenwartsphilosophie neigt durchaus zu einer „Ontologisierung“ in diesem Sinn (und unabhängig von dem Begriff): so geht die „Intensität“ von Deleuze und Guattari in eine solche Richtung oder aber der Kult der „Abwesenheit“ bei Derrida - und überhaupt die Distanzierung gegenüber allem „Essenzialismus“. Das heißt, dass der von mir etwas künstlich rekonstruierte Ontologie-Begriff heute eine gewisse philosophische Aktualität besitzt.
Im Kapitel über die „Natur“ bewegt sich Aristoteles natürlich wieder fest auf dem Boden der Objektwissenschaft, wenn er den Wasser-Materialismus des Thales über den Vorgang der Schmelzung plausibilisiert. Was der aristotelischen Lehre von der Ineinander-Verwandlung der vier (oder fünf) Elemente entspricht. Allerdings kann daraus der Schluß gezogen werden, dass die Elemente die eine Urmaterie bilden und diese folglich eine Transzendentalie überhaupt, sodaß man sagen könnte „ens et elementa convertuntur“ oder sogar „ens et aqua convertuntur“ – womit die Elementenlehre in den Rang der Ontologie gehoben würde. Das heißt die Ordnung der Dinge, ja die Ordnung der Wissenschaften ist nicht ganz so sicher, wie diese Ordnungen zunächst suggerieren. Doch das kann man erst feststellen, wenn man die Ordnungen konstruiert hat.

Walter Seitter


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Sitzung vom 28. Jänner 2015 

Freitag, 23. Januar 2015

In der Metaphysik lesen (1014b 15 – 1015a 3)

Die ersten drei Kapitel des Buches V waren verschiedenen Versionen des Ursächlichen gewidmet. Kapitel 4 hat die Natur (physis) zum Thema – eher fast die verschiedenen Bedeutungen des Wortes. Doch wir werden gleich sehen, dass es sich damit von der Ursachen-Thematik kaum entfernt. Das liegt an der weiten Fassung dieses Komplexes bei Aristoteles.
Wir haben uns schon einmal ausdrücklich mit der physis beschäftigt, nämlich am 14. November 2012, als uns Peter Berz Heideggers Aufsatz zum 1. Kapitel von Buch II der Physik vorgestellt hat: eigentlich eine sehr ähnliche, aber ausführlichere Darlegung derselben Bedeutungsvielfalt. Wir sehen daran neuerlich, dass die „gesuchte Wissenschaft“ in der Metaphysik im Vergleich zu den anderen, von Aristoteles vorher bearbeiteten Wissenschaften, vor allem zur Physik gehört, keineswegs eine Wissenschaft vom Ganz Anderen ist (in dem Sinn keine „Heterologie“) – sondern eine Fortsetzung, eine Ausdehnung. Wobei wir die Vorsilbe meta in zweifachem Sinn verstehen können: erstens in dem eher antiken Sinn einer extensionalen Erweiterung, zweitens in dem eher modernen Sinn von „Metawissenschaft“ (hier ließe sich eventuell die Ontologie einordnen).
Die erste Bedeutung von physis erläutert Aristoteles rein heideggerianisch: man spreche die  erste Silbe des Wortes sehr langsam aus, dann eröffnet sie die Zeit zum Wachsen der Naturdinge: zum Entstehen der Wachsenden: phyomenon genesis. Aristoteles hat schon 2000 Jahre vor Heidegger geheideggert – aber nur manchmal. Diese erste Bedeutung ist also eine rein verbale (wofür die mit -sis gebildeten Substantive zuständig sind). Zweite Bedeutung: das anfängliche und immanente Woraus des Wachsens des Wachsenden (der Samen, die Matrix ?). Dritte Bedeutung: das Woher der spezifischen Bewegung eines Lebewesens: Wachsen, Vermehrung kraft Berührung und Zusammenwachsen (Seele, Ernährung, Fortpflanzung ?). Vierte Bedeutung: das unvergängliche Woraus oder der Grundstoff der natürlichen Dinge: also die kosmischen Elemente. Fünfte Bedeutung: die ousia oder die Wesenheit der natürlichen Dinge, sofern sie ihre Gestalt oder Form gefunden haben. Diese physis ist eine Synonym für die Formursache der vollendeten Dinge. Aber mit dem Empedokles-Zitat legt Aristoteles eine Version der Wesenheit nahe, welche in Mischung besteht. So etwas wie Mischung war bereits in der dritten Bedeutung angeklungen.
                               
Walter Seitter


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Sitzung vom 21. Jänner 2015 

Samstag, 17. Januar 2015

In der Metaphysik lesen (1014a 25 – 1014b 14)

Auch die „Elemente“ bilden – wie die Ursachen – eine Teilmenge der Prinzipien. Sie werden aber viel stringenter definiert: nämlich als Bestandteile, die in keine weiteren andersartigen Bestandteile zerlegt werden können. Nehmen wir als Beispiel für ein Zusammengesetztes den Wein, um auf das Wasser zu kommen.
Der Wein ist zusammengesetzt aus Wasser, Mineralien (Erde) und „Geist“ (Feuer). Er ist also kein Element. Aber seine drei Bestandteile kommen den antiken Elementen sehr nahe: jedenfalls galt das Wasser nicht mehr als zusammengesetzt aus anderen Bestandteilen: es bestand nur aus Wasserpartikeln. Für die moderne Physik besteht das Wasser aus Wassermolekülen – das wären die aristotelischen Elemente bzw. das eine Element Wasser. Doch die moderne Mikrophysik bzw. Chemie zerlegt dieses in noch kleinere und andersartige Teilchen: Wasserstoffatome und Sauerstoffatome. Daher werden Wasserstoff und Sauerstoff heute „Elemente“ genannt – was formal den aristotelischen Elementen entspricht. Nur dass die jetzt eine Stufe tiefer (mikroskopischer) angesetzt werden. Und die antiken Atomtheorien gingen ebenfalls eine Stufe unter die wahrnehmbaren Stoffqualitäten. Während die antike Elemententheorie (Erde, Wasser, Luft, Feuer) bei den sinnlichen Qualitäten blieb.
In unserer Stelle geht Aristoteles auf die kosmologische Dimension des Elementenbegriffs nicht ein, sondern begnügt sich mit Parallelen zur Geometrie und zur Logik, sodaß der Begriff hier sehr blaß bleibt und dieses Kapitel das „schwächste“ der drei ersten, den archai gewidmeten Kapitel des Buches V bleibt.
In der Poetik nennt er stoicheion den ersten – d. h. einfachsten – Bestandteil der Sprache: den Buchstaben, aus dessen Vermehrung und Zusammenfügung alle weiteren Teile gebildet werden. Die Grundbedeutung des Wortes ist: Glied einer Reihe, und diese Bedeutung trifft direkt auf die Buchstaben zu. Das lateinische Wort „Element“ soll ja aus der Buchstabenfolge L M N stammen. Das griechische Wort besteht fast aus derselben Lautfolge wie Stück ....
Die vier (oder fünf) kosmischen Elemente gehen über diesen stückhaften Begriff von „Element“ weit hinaus: sie sind durch sinnliche Qualitäten bestimmt, durch spezifische Bewegungen sowie Verwandlungsmöglichkeiten. 

Walter Seitter


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Sitzung vom 14. Jänner 2015 

Sonntag, 11. Januar 2015

Ontologie (mit Uwe Meixner)

Die Ontologie ist eine Richtung des Philosophierens, die mit empirischen Sachuntersuchungen zunächst einmal wenig zu tun hat. Jedenfalls gilt das für die theoretische Ontologie, welche die allgemeinen und grundlegenden Seinsmodalitäten aufstellt und ordnet, wobei sie sich vor allem an die Sprache anlehnt, die mit ihrer Unterscheidung von Substantiven, Verben, Adjektiven usw. die Kategorien vorgibt und weitere Seinsmodalitäten wie Möglichkeit, Notwendigkeit, Entstehung und Vergehung und Negation vorzeichnet. Außer den Seinsmodalitäten, die jeweils alternativ einzusetzen sind, gibt es die allgemeinsten Seinseigenschaften oder „Transzendentalien“, die jedem Seienden als solchen zukommen; bei Aristoteles heißen sie: ein, wißbar oder wahr, erkennbar oder gut; sie werden wie „seiend“ analog, also flexibel, je nach Eigenart der Sachen zugesprochen.
Damit ist bereits der Übergang von der theoretischen zur okkasionellen Ontologie nahegelegt. Sachuntersuchungen, die von der Erfahrung ausgehen und von anderen philosophischen (oder wissenschaftlichen) Disziplinen durchgeführt werden, können unerwartet und „plötzlich“ auf ontologische Fragestellungen stoßen – etwa, indem sie feststellen, daß die Vorgaben der theoretischen Ontologie nicht mehr zuzutreffen scheinen. So etwas haben wir in der Poetik erlebt, wo Aristoteles für den plot der Tragödie die Ordnung von Substanz und Akzidenzien umzustoßen scheint. Allerdings hat er das nicht eigens thematisiert, sondern wir haben das getan und haben daher explizit „okkasionelle“ Ontologie gemacht. Wir taten das auch mit der Fragestellung, ob denn die Tragödie, der Aristoteles eine Wesenheit zuspricht, auch ein selbständiges Wesen ist, also eine Substanz (ungefähr wie die Lebewesen). Auf jeden Fall schien uns die Tragödie eine unsichere Kandidatin für den ontologischen Ehrentitel „Substanz“. Da mussten wir überlegen, was denn die Kriterien für „Substanz“ sind und so haben wir Ontologie an einem konkreten Fall betrieben. Die okkasionelle Ontologie kann die theoretisch vorgegebene bestätigen, ergänzen, präzisieren – oder aber in Frage stellen, relativieren, vielleicht sogar umstoßen. Da könnte man dann eventuell von „Ontographie“ sprechen: wenn bestimmten Sachen bestimmte ontologische Prädikate innovativ zugeschrieben werden. Da könnte man auch von „revisionärer“ Ontologie sprechen, um den Sprachgebrauch aufzugreifen, den Uwe Meixner von Peter Strawson übernimmt, der zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik unterscheidet.[1] Da nach Meixner die Ontologie grundsätzlich „nur“ deskripitiv ist und weder kausale noch finale Erklärungen liefert, wird man eine „revisionäre“ Ontologie wohl besser der „traditionellen“ gegenüberstellen. Beispiel für eine – allerdings auch schon seit langem bestehende – revisionäre, in diesem Fall wohl eher „minoritäre“ Ontologie: diejenige von David Hume, der Eigenschaftsindividuen wie „perception“ oder „impression“, die traditionell als Akzidenzien gelten, für Substanzen hält, die sich zu Komplexen wie „Körper“ oder „Ich“ fügen. Wenn ich mich zu einer eigenen Ontologie entschließen würde, würde ich wohl in eine ähnliche Richtung gehen, die ich ja mit der „Philosophie der Erscheinungen“ schon eingeschlagen habe, und würde sie „Akzidenzialismus“ nennen. Wobei ich Ansätze dazu auch bei Aristoteles aufsuchen würde (beim „protagoräischen“ Aristoteles).[2]
Uwe Meixner versteht unter „Ontologie“ genau das, was auch ich gemäß dem Buch IV der aristotelischen Metaphysik so nenne, umschreibt sie aber auch als Darstellung der „Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen“ und obwohl seine Terminologie eher von der neueren Analytischen Philosophie herkommt, greift er auch öfter auf die aristotelische und scholastische Begrifflichkeit zurück und unterscheidet wie erwähnt zwischen den Kategorien und den Transzendentalien.
Die traditionelle Kategorien-Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens engt er auf Individuen ein, wobei die Substanzen als unabhängige, die Akzidenzien als abhängige Individuen definiert sind. Als Hauptbeispiele für Substanzen dienen ihm menschliche Personen, deren Unabhängigkeit jedoch nur durch sorgfältige Unterscheidungen bzw. Ausschließungen gesichert werden kann: eine Person, z. B. Otto, ist nur von solchen Individuen unabhängig, die weder ein Teil von ihr sind (Gehirn) noch von denen sie ein Teil ist (Weltraum).[3]
Ein Akzidens ist z. B. das Lächeln von Otto, also eine vorübergehende Modifikation an ihm: ein Vorgang. Vorgänge, Grenzen sind Akzidenzien. Oder aber Schatten, Spiegelbilder, Löcher, Eigenschaften. Dasjenige Individuum, ohne das ein Akzidens nicht existieren kann, nennt Meixner dessen „Träger“. Ein Akzidens kann auch mehrere Träger haben: das Spiegelbild hat zwei: das gespiegelte Individuum sowie dasjenige, auf dem das Spiegelbild erscheint. Beispiel dafür, dass die ontologische Betrachtungsweise auch zu ganz bestimmten Sachen treffende Feststellungen machen kann (obwohl das nicht ihre erstes Ziel ist). Eine Ehescheidung ist ein Vorgang, der ebenfalls ein mehrträgerisches Akzidens ist.[4]
Meixner setzt als höchsten Begriff der Ontologie den der „Entität“ an, nicht den des „Seienden“. Statt „Kategorien“ sagt er auch „oberste Seinsarten“, und die höchsten sind für ihn „Objekt“ und „Funktion“. Objekte sind „gesättigte“ Entitäten, Funktionen sind „ungesättigte“ Entitäten. Unter den Objekten stehen nicht nur die Individuen (z. B. Uwe Meixner, Regensburg), sondern auch die Typenobjekte (Buchstabe A, Homo sapiens sapiens, Platonische Ideen) sowie die Sachverhalte (z. B.: Regensburg liegt an der Donau) – in deren Einführung besteht wohl die einschneidendste Differenz zur antiken Ontologie. Unter den Funktionen: die Eigenschaften und die Relationen.
Mit dem eben genannten Begriff „Vorgang“ ist Meixner ganz in die Nähe des Begriffes „Ereignis“ gerückt: eigentlich zwei Synonyme. Wie gesehen kann er den Begriff „Vorgang“ als Akzidens in einer aristotelischen Ontologie unterbringen. Einige seiner früheren Publikationen situieren jedoch diesen Begriff als ontologischen oder ontologiehistorischen Gegenbegriff zu Substanz und in diesem Sinn sind auch wir schon auf ihn zu sprechen gekommen.[5] In seiner durchgeführten Ontologie kommt jedoch Meixner zu dem verblüffenden Ergebnis, dass Ereignisse, an deren Existenz gar kein Zweifel besteht (Beispiel: Untergang der Titanik, Zweiter Weltkrieg) unverstandene Entitäten sind, über deren präzise logische Charakterisierung keine Einigkeit besteht, und dass sie jedenfalls bis jetzt als „kategorial heimatlose“ Entitäten zu gelten haben.[6] Nach dem derzeitigen Stand der ontologischen Diskussion sei unklar, ob sie den Objekten oder den Funktionen zuzurechnen seien oder einen Platz neben ihnen einnehmen. Im übrigen behauptet Meixner eine ähnliche kategoriale Heimatlosigkeit auch für Zahlen und Mengen (die doch in der Mathematik zu den meistgebrauchten Entitäten gehören).
Historisch unterscheidet Meixner zwei Tendenzen in Sachen Ontologie: nach Platon habe sich eine Bevorzugung der Individuen, besonders der physischen Individuen, abgezeichnet, welche Tendenz bis heute anhalte. Doch seit dem 19. Jahrhundert mache sich eine andere Tendenz bemerkbar: eine Bevorzugung der Sachverhalte und Ereignisse – wobei die Ereignisse mit Sachverhalten eng verbunden seien, weil ihr Gehalt stets in Sachverhalte zerlegbar sei, auch wenn sie selber keine Sachverhalte seien.[7]

Die Feststellung solcher historischer Tendenzen führt Meixner zur Frage, ob sich ein ontologischer Vorrang zwischen den oberen Kategorien behaupten lasse, speziell innerhalb eines sogenannten „ontologischen Dreiecks“ aus Individuen, Typen, Sachverhalten. Er meint, es lassen sich Argumente für jede der drei Kategorien finden, vor allem für die Sachverhalte. Aber keine derartige Argumentation sei schlüssig.[8]
Wie vor allem aus der kategorialen Heimatlosigkeit wichtiger Entitäten hervorgeht, ist für Meixner die Ontologie, gerade weil sie sich strengen Kriterien unterwirft, von hartnäckigen Erkenntnisperplexitäten gezeichnet und wohl unaufhebbar ein unvollständiges Unternehmen – in dem gleichwohl Erkenntnisfortschritte möglich und sogar wirklich sind.



Walter Seitter


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Sitzung vom 7. Jänner 2015 



[1] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt 2011): 44
[2] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997). Meine Philosophische Physik versteht sich nicht in erster Linie als Ontologie, hat aber mir ihr die deskriptive Vorgangsweise gemeinsam.
[3] Siehe Uwe Meixner: op. cit: 38ff.
[4] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 43.
[5] Siehe Uwe Meixner: Ereignis und Substanz. Die Metaphysik von Realität und Realisation (Paderborn 1997); ders.: Die Ersetzung der Substanzontologie durch die Ereignisontologie und deren Folgen für das Selbstverständnis des Menschen, in: R. Hüntelmann (Hg.): Wirklichkeit und Sinnerfahrung (Dettelbach 1998)
[6] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt 2011): 167ff.
[7] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 199ff.
[8] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 203ff.