τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 17. Oktober 2014

In der Metaphysik lesen (1011a 2 – 1012b 31)

Während in den ersten Büchern, vor allem in Buch I, die „gesuchte Wissenschaft“ dahingehend anvisiert wird, dass sie die ersten, also die höchsten, in unserem Sinn die entferntesten Ursachen und Prinzipien der Dinge, also der Seienden, und zwar aller, aufsuchen und bestimmen soll, vollzieht das Buch IV ab 1003a 32 eine Kehrtwendung in Richtung Immanenz, Identität, beinahe Tautologie.

Betrachtung des Seienden als Seienden – aber doch gleich mit einer bestimmten Differenzierung bzw. Pluralisierung: es, das Seiende wird vielfältig ausgesagt. Diese Vielfältigkeit erstreckt sich nun keineswegs enzyklopädisch auf Arten, Gattungen und dergleichen, etwa Pflanzen, Menschen, Sterne. Sondern eher formalistisch auf Seinsmodalitäten, von denen die erste den Bezugspunkt für alle bilden soll, die gemeinsame arche oder physis. Diese erste heißt ousia, zumeist übersetzt als Wesen oder Substanz, von dem bereits genannten Joe Sachs entweder als independent thing oder thinghood.[1] Diese zweifache – im Englischen wohl revolutionäre – Übersetzung können wir Deutschsprachige sehr gut nachvollziehen, wir könnten sie sogar direkt übernehmen und sagen: Ding oder Dingheit (Dinglichkeit). Eine Doppeltheit, die scholastisch als Erste Substanz bzw. Zweite Substanz wiedergegeben worden ist.

Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden Übersetzungen und worin ihr Bezug zum Seienden? Die Erste Substanz ist nichts anderes als eine erhöhende Wiederholung des Seienden: sie nennt das Seiende im Vollsinn des Wortes: ein selbständig und mit eigentümlicher Wesensform ausgestattetes Seiendes. Da ist keine Ursache ins Auge gefasst, sondern eine Sache im vollen Sinn des Wortes, eine Sache mit Sosein und Dasein. Und die Zweite Substanz – ist eben das Sosein, die Wesensform, die Formursache der Sache.

Diese eine „Ursache“ wird also in dieser immanentistischen oder „tautologischen“ Betrachtung sehr wohl in Betracht gezogen, sogar prominent hervorgehoben. Aber ständig auch in Quasi-Gleichsetzung, Beinahe-Verwechslung mit dem Verursachten, also der Sache selbst, der Sache in ihrer Fülle. Übrigens eignet dem aristotelischen Ursachen-Begriff überhaupt die Neigung zur Immanenz und gleichzeitig eine starke Vielfältigkeit: Form ist immer ganz immanent; Materie einigermaßen (das Holz, aus dem der Tisch gemacht ist, liegt ganz und gar in ihm; wenngleich es solches Holz auch noch außer ihm gibt (er ist ja „aus“ Holz)), Urheber zumeist außerhalb der Sache; Zweck hingegen eher darin). Daher tendiert die aristotelische Physik der Ursachen zunächst einmal wenig zum „meta“.
Die Vielfältigkeit des Ausgesagtwerdens des Seienden fängt also schon mit der Fast-Wiederholung durch die Erste Substanz an, geht weiter mit der abgeschwächten Wiederholung durch die Zweite Substanz, setzt sich fort mit der Aufzählung der anderen Kategorien, als da sind die Akzidenzien, lauter Anhängsel oder vielleicht doch nicht nur Anhängsel der Substanz, geht über die Akzidenzien noch hinaus zu stärker dramatisierenden Versionen des Wesens wie Vergehen, Beraubung, Erzeugung und sogar Verneinung. So weit gestreut ist die Vielfältigkeit des Seienden als solchen, wofür man auch sagen kann: der Seiendheit. Denn das ist die wörtlichste Übersetzung von ousia. Und dies alles wohlgemerkt innerhalb jedes Seienden – unabhängig von Art und Ort seines Vorkommens in der Welt.
Immanentismus und immanente „Explosion“ eines jeden Dinges, Wesens kennzeichnen also „Ontologie a“. (Beinahe noch immanentistischer (und anderswie extensiv) verhält sich „Ontologie b“). Allerdings wird sie im Buch IV nur kurz angerissen bzw. sie wird durch die Aufstellung von „Axiomen“, fortgesetzt, die für alle Dinge gelten. Diese Axiome sind der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der Satz vom ausgeschlossenenen Dritten, die Regel von der Unrichtigkeit einseitiger Aussagen über alle Dinge. Auch diese Axiome gehen in die Richtung von Immanentismus, Identismus: sie besagen alle, dass jede Aussage Bestimmtes sagen muß.
Diese eher logische Weiterführung der „Ontologie“ wird sehr langwierig vorgetragen und mit beißender nicht enden wollender Polemik einerseits gegen Sophisten – hauptsächlich Protagoras – und Naturphilosophen wie Heraklit und Anaxagoras, Demokrit aufgefüllt. Als gemeinsame Behauptung dieser Philosophen nennt er die sensualistische These, die aisthesis sei phronesis, als die Wahrnehmung sei Verstand (1009b 14). Eine These, von der Aristoteles gar nicht weit entfernt ist, besagt doch unser aristotelisches Hermesgruppen-Motto, das Wahrnehmen sei so etwas Ähnliches wie das vernünftige Erfassen. Die Sophisten und einige Naturphilosophen aber kommen zu eher absurden Schlussfolgerungen oder Selbstwidersprüchen – entweder aus Lust an der Provokation oder vielleicht aufgrund ihrer Überwältigung durch den Abschied von den Mythen.
Im Zuge dieser Ausführungen gibt es immer wieder bemerkenswerte Stellen. Etwa wenn Aristoteles meint, gewisse Voraussetzungen müssen angenommen werden, können nicht bewiesen werden; etwa diejenige; dass „wir jetzt“ nicht „schlafen“ sondern „wachen“ (1011a 7). Er hat ja selber Über Wachen und Schlafen eine kleine Schrift verfasst und ich ein zweibändiges Werk darüber. Wieso kann man das nicht beweisen? Weil unser gesamtes Leben ein Traum sein könnte. Wir „müssen“ unser Wachsein theoretisch voraussetzen und wir sollen es praktisch uns einschärfen. Schlafen und Wachen könnte man – in Anlehnung an energeia und dynamis - als strikt ontologische Modalitäten unseres Daseins betrachten.

Walter Seitter

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Sitzung vom 15. Oktober 2014 


[1] Joe Sachs: op. cit.: 54.

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