τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 26. Juni 2014

In der Metaphysik lesen 2014 / Poetik lesen 2007–2010

Wir kommen auf die Poetik lesen-Vorstellung von vorgestern zu sprechen. Und weil unser jetziges In der Metaphysik lesen gewissermaßen eine Fortsetzung von jenem ist, erwähne ich die zwei Begriffe, auf die ich diese Tätigkeit neulich gebracht habe:
„Wissenschaftsperformanz“ ist ein etwas gespreizter Begriff für jedwede wissenschaftliche Tätigkeit. Ich verwende ihn absichtlich für unsere bescheidenen, aber geduldigen Lese- und Diskussionssitzungen jeweils am Mittwoch, die wir zuerst vier Jahre lang (2007-2010) der Lektüre der aristotelischen Poetik gewidmet haben. Eine Tätigkeit, die allgemein als wissenschaftliche gelten darf, weil wir zwei Wissenschaften zum Einsatz bringen: Philologie und Philosophie. Das sind ausgerechnet (bzw. zufällig) die beiden Wissenschaften, die mit „Philo-“ beginnen, weil sie sich selber als Liebhabereien verstehen: Liebe zu den Wörtern und Liebe zur Weisheit.
Wir lesen den Text in deutscher Sprache, schauen aber immer wieder in den griechischen Text hinein, um einzelne Wörter zu prüfen, Übersetzungsfragen zu besprechen. Ohnehin verwenden wir verschiedene Übersetzungen, auch solche in die englische Sprache (mit denen man dem „globalen“ Aristoteles von heute nahekommt). Und „philosophisch“ möchte unsere Lektüre sein, weil die gelesenen Texte dieser Disziplin angehören (die Poetik nicht unbedingt der „reinen“ Philosophie) und weil wir selber biographisch der Philosophie näher stehen oder ihr nähertreten wollen. Damit soll auch gesagt sein, dass unsere Tätigkeit das Philosoph-Werden befördern kann (das Griechisch-Lernen ebenso).
Der Begriff „Performanz“ wird hier im Sinn von „performativen“ Äußerungen im Unterschied zu „konstativen“ Äußerungen verwendet. Nach John L. Austin bewirken performative Äußerungen unmittelbar etwas, ohne wahr oder falsch sein zu müssen. Unter Wissenschafts-Performanz verstehe ich, dass mit irgendwelchen Akten überhaupt Wissenschaft gemacht wird (und nicht etwa vordringlich Unterhaltung, Wirtschaft oder Religion), in unserem Falle, dass Philosophie gemacht wird. Daß bestimmte Thesen, Fragestellungen, Problematisierungen erörtert werden, wobei in unserem Falle das Performative auch durch eine bestimmte Art von Interdisziplinarität, aber auch Undiszipliniertheit, erreicht werden mag. Ich meine damit so etwas wie „Fröhliche Wissenschaft“ (Friedrich Nietzsche). Allerdings sollen dann doch auch konstative (oder propositionale) Aussagen zustande kommen, die wahr oder falsch sein können bzw. wahr sein sollen. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte man nicht von Wissenschaft oder Philosophie sprechen.

Wir schauen in die Philosophiegeschichte zurück und fragen, welche Philosophen welchem Typ von Äußerungen zuneigen. Extrem performativ: Diogenes; ziemlich performativ: Sokrates, Nietzsche; überwiegend konstativ Aristoteles, Kant.
„Wissenschafts-Erzählung“ nenne ich den Bericht von Wissenschafts-Performanzen, und zwar einen solchen Bericht, der gerade das Performanzhafte betont oder steigert. Eine solche Steigerung ist nun gerade dann angebracht – oder aber unangebracht? – wenn die Performanz hauptsächlich in Lektüre von Texten des nicht sehr aufgeregten Aristoteles besteht. Ich glaube, sie ist eher angebracht. Schon die Lektüre sollte den Aristoteles-Text „dramatisieren“ – und zwar so, dass die im Text schlummernde Dramatik aufgeweckt wird. Das geht am leichtesten dann, wenn der Text selber sich zu Kritik, Polemik aufrafft. Sollte aber auch gelingen, wenn es um rein „sachliche“ Spannungen, Sprünge, Überraschungen geht. Beispiel: der Sprung zur „Ontologie“ im IV. Buch der Metaphysik.
Die Wissenschafts-Erzählung der Aristoteles-Protokolle verläuft simultan auf zwei Zeitebenen: Zeit der Abfassung der Aristoteles-Texte: seine Gedanken, seine Wörter, seine Gegner. Und Zeit unserer Lektüre: was in dieser Sitzung gelesen und gesagt worden ist, was dieser Kommentator dazu meint, wie man heute das Wort „Ontologie“ verwendet, wie es jetzt um das Lykeion in Athen steht. Es geht also auch um eine „Aktualisierung“ – die jedoch nur möglich ist, wenn man Aristoteles in seiner Zeit „aktualisiert“ und jene Aktualität vorsichtig in die heutige Situation einrückt. So hat Barry Smith einen Aufsatz über die mögliche Fortsetzung der aristotelischen Ontologie (im Sinn von „Dingkunde“) „Aristoteles 2002“ genannt.[1]

Nächste Sitzung am Mittwoch, dem 8. Oktober 2014.

Walter Seitter


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Sitzung vom 25. Juni 2014 


[1] In: Th. Buchheim, H. Flashar, R. A. H. King (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? (Hamburg 2002). Hier zum PDF-Download von Barry Smiths Aristoteles 2002:
https://www.academia.edu/2824007/Aristoteles_2002

Samstag, 21. Juni 2014

In der Metaphysik lesen (1010a 32 – 1011a 2)

Der kleine Ausflug in die Kosmologie, den Aristoteles da einschiebt, läßt daran erinnern, daß die Platzierung der Erde im Zentrum des Weltalls wohl eine zweideutige Platzierung gewesen ist, sodaß ihre Aufhebung durch die „Kopernikanische Wende“ nicht eindeutig als „Narzißmus-Kränkung“ gesehen werden muß (wie Sigmund Freud nahegelegt hat). Einerseits hat diese Platzierung dem von den Menschen bewohnten Planeten sehr wohl eine ausgezeichnete Position zugewiesen: jedenfalls in einem geometrischen Sinn. Ob der Erde damit die Funktion zugewiesen wurde, das gesamte – kugelförmige - Weltall zu halten, zu stabilisieren oder gar zu konstituieren (wie man mit dem Zirkel einen Kreis vom Mittelpunkt aus konstruiert), sei dahingestellt. Aristoteles erwähnt in unserer Stelle keineswegs so eine fundierende Rolle der Erde. Er betont vielmehr die andere Seite: die Erde, also die Menschenumwelt, ist nur ein winzig kleiner Ort im Weltall und noch dazu der qualitativ schwächste, ja minderwertigste: weil da die Bewegung, Veränderung, vorherrscht. Die Mitte der Gesamtkugel, ist deren „weichster“, unstabilster Teil.
Das wiederum entspricht ganz grob gesprochen ein bißchen unserer heutigen Auffassung von der Erdkugel, die im Inneren flüssig-heiße Schichten birgt. Doch im Moment geht es um die Abwertung der Mitte und diese wurde im geozentrisch-christlichen Weltbild damit auf die Spitze getrieben, daß im Innersten der Erde der theologische Ort „Hölle“ angesetzt worden ist, wo Feuer und Superlativ des Bösen lokal koinzidieren. So beispielsweise in Dantes Göttlicher Komödie. Die Hölle als geometrisches Zentrum der gesamten Welt. Konstitutiver Mittelpunkt?
Davon ist natürlich bei Aristoteles keine Rede, weil er die Erde von jeder theologischen Konnotation frei hält (während er mit der äußersten Himmelssphäre anders verfährt). Hingegen hat die griechische Volksreligion die Erde sehr wohl mit theologisch relevanten Zonen ausgestattet: Orte von Theophanie.
Aristoteles kommt dann gleich wieder auf seine Sophisten (und Naturphilosophen?) zu sprechen und weist ihnen nach: wenn sie – dem Satz vom Widerspruch offensiv widersprechend - behaupten, daß alles zugleich sei und nicht sei, dann müßten sie, ob sie nun wollen oder nicht, eigentlich annehmen, daß sich alles in Ruhe befinde, weil bereits „alles“ – nämlich jedwedes und jedes Gegenteil davon – realisiert sei. Hier treibt Aristoteles ironisch oder kritisch oder polemisch den Begriff „alles“ auf die Spitze (Mathematiker würden da vielleicht von unterschiedlichen „Mächtigkeiten“ reden).
In Zuspitzung einer schon gemachten Aussage behauptet Aristoteles, nicht jede Erscheinung sei wahr; macht aber gleich den Verfechtern der abgelehnten These (jede Erscheinung sei wahr) ein gewisses Zugeständnis, nämlich: wohl aber sei jede Wahrnehmung wahr – jedenfalls hinsichtlich ihres eigenen Gegenstandes: also das Sehen sei wahr in bezug auf Farbe, das Hören in bezug auf Klang usw. Sogenannte Sinnestäuschungen kämen nicht durch Täuschung der jeweiligen Sinnesempfindung zustande sondern durch Täuschung der Vorstellung, die bereits eine Art Urteil abgibt. (Physische Störungen des Sinnesorgans würde wohl Aristoteles auch nicht ausschließen). Daß das Sehen in geringer Entfernung anders ausfällt als in großer Entfernung, ist nun kein Einwand gegen die Wahrheit eines jeden Sehaktes – denn mit der anderen Entfernung wird ja „anderes“ gesehen. Was hingegen die Meinung des Arztes und die Meinung des Kranken über dessen Gesundungsaussichten betrifft, so handelt es sich da eindeutig um Urteile, wie ja das Wort „Meinung“ schon klarlegt. Etwas anderes würde die Empfindung des Kranken von seinem momentanen Zustand sein.
Wir können festhalten, daß Aristoteles hier, obwohl er gegen die „Überschätzung“ der Erscheinungen – in Sachen Wahrheit – zu argumentieren scheint, ein Plädoyer für die Wahrheitsfähigkeit der Sinnesempfindungen führt; er verbindet es allerdings mit einem Plädoyer für seine Logik, nämlich für die Relevanz von „Wesen“ und von „Notwendigkeit“; es ließe sich vielleicht auch sagen: für Identität in dem Sinn, daß etwas etwas ist.

Dann setzt Aristoteles zu einem sehr andersartigen Beweis gegen die Annahme an, es gebe nur Wahrnehmbares. Denn in diesem Fall gäbe es gar nichts – weil es dann keine beseelten Wesen gäbe. Onta empsycha: beseelte Seiende, Lebewesen. Lesen wir nur so weit, dann setzt Aristoteles voraus, daß beseelte Wesen – also Menschen, Tiere – nicht wahrnehmbar sind. Eine merkwürdige Voraussetzung, die ihm kaum zuzutrauen ist. Oder meint er, daß die Tatsache, daß ein Wesen beseelt, also animalisch lebendig ist, nicht direkt wahrnehmbar ist? Oder noch eingeschränkter: die Tatsache, daß ein Wesen wahrnehmen kann bzw. tatsächlich wahrnimmt, sei nicht wahrnehmbar? Selbst das ist dem Zoo- und Anthropologen Aristoteles nicht zuzutrauen. Und die weitergehende Einschränkung: die Seele selber sei nicht wahrnehmbar, würde vielleicht zu irgendeinem christlichen Seelen-Begriff passen – aber nicht unbedingt zum aristotelischen, für den die Seele nicht ein Gespenst irgendwo drinnen ist, sondern das Organisationsprinzip eines lebenden Körpers. Aristoteles’ irreale Schlußfolgerung geht tatsächlich dahin, daß es dann keine Wahrnehmung gäbe. Es ist also die Wahrnehmung, die er für unwahrnehmbar hält – daher muß es Unwahrnehmbares geben. Wenn es nur sinnlich Wahrnehmbares gäbe, gäbe es gerade nichts sinnlich Wahrnehmbares – weil keine Sinneswahrnehmung. Aber die Substrate, also die Elemente oder Materien, die die Wahrnehmung auslösen und veranlassen, die würde es schon geben. Also das, was dann zum Objekt der Wahrnehmung wird. Wahrgenommen werden nur Objekte – und nicht etwa die Wahrnehmung selber. Wahrnehmung ist nicht reflexiv sondern ausschließlich „objektiv“. Es gibt also mindestens ein unwahrnehmbares, neuzeitlich gesagt „übersinnliches“ Etwas: die Wahrnehmung selber. Und Aristoteles scheint dieses Unwahrnehmbare auf den Träger der Wahrnehmung auszuweiten. Als ob Menschen und Tiere unwahrnehmbar wären. Kann das sein?

Walter Seitter

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Sitzung vom 18. Juni 2014

Freitag, 20. Juni 2014

23. Juni 2014: Poetik lesen

NEUE WIENER GRUPPE / LACAN SCHULE – SEKTION ÄSTHETIK


Montag, 23. Juni 2014, 19:30 Uhr
Charim Galerie, Dorotheergasse 12, 1010 Wien

Präsentierung der Lektüre der aristotelischen Poetik durch die Hermes-Gruppe (2007–2010), erschienen in Poetik lesen 1 & 2


Am 26. und 27. September 1953 nannte Jacques Lacan in Rom (sein Auditorium bestand aus drei Leuten) einige Gebiete, die zur Lehre der Psychoanalyse gehören,  nämlich die Rhetorik, die Dialektik (im Sinne der Topik des Aristoteles), die Grammatik und - als den Gipfel einer Ästhetik der Sprache - die Poetik. 

Die Wiener Hermes-Gruppe hat vom Jänner 2007 bis zum Dezember 2010 die aristotelische Poetik gelesen und besprochen; wir haben die Besprechungen protokolliert, dann publiziert. Die Langwierigkeit dieser Lektüre stellt vielleicht einen kleinen Rekord dar. 


Die Poetik als Lehre von der Dichtkunst gehört zu den "poietischen Wissenschaften", in denen es um die Herstellung erwünschter Realitäten (Sieg, Gesundheit, nützliche Dinge, schöne Werke) geht. Aristoteles läßt aber auch andere Wissensformen einfließen: Geschichtsschreibung, "Physik": was ist die Natur der Dichtung bzw. der Tragödie, was sind ihre Ursachen, ihre Arten, ihre Materialien, ihre Zweckbestimmung? 

Aristoteles betrachtete das ihm vorausliegende 5. Jahrhundert als "klassische" Epoche. Dennoch scheint er den Trend seiner Zeit, nämlich das Theater zu einer reinen Textangelegenheit zu machen, also zu "Literatur" im heutigen Sinn, vorangetrieben zu haben.  Unsere Lektüre hat in den literaturanalytischen Ausführungen des Aristoteles auch Wendungen zur "Ontologie"  festgestellt.  Die Wirksamkeit seiner Schrift hält an.


Walter Seitter

Donnerstag, 12. Juni 2014

In der Metaphysik lesen (1010a 1 – 31)


Eine ringförmige Verkettung aus zerbrochenen Ringen ist eine recht lose Zusammenfügung – im Grunde genommen eine Phase, ein momentanes Resultat eines work in progress, das durch den Tod des Autors abgebrochen worden ist und dann eben in so einem Zustand liegengeblieben ist. Bei Aristoteles kommt dazu noch die große zeitliche Entfernung zwischen ihm und uns – mitsamt den Ungewißheiten aus Überlieferung, Erhaltung und Nicht-Erhaltung. So sollen die von Aristoteles fürs Publikum verfaßten Schriften alle verloren sein, erhalten sind nur die Schriften aus dem Lehrbetrieb – und die nicht alle (Buch II der Poetik (über die Komödie) ist verloren). Umgekehrt die Lage bei Platon, von dem die Dialoge erhalten, die esoterischen Lehrsätze jedoch nur erschlossen werden können (er soll sie selber „geheimgehalten“ haben). Zur Überlieferungsgeschichte gehören aber auch die Akkumulation sowie die Kontroversen der Deutungen: war Aristoteles Platoniker oder nicht? Kann er überhaupt von den Sophisten etwas aufgenommen haben?
Nachdem Aristoteles lang genug referiert hat, daß die frechen Sophisten – und sogar die altehrwürdigen Naturphilosophen - ziemlich abenteuerliche, jedenfalls unphilosophische Meinungen über die Dinge und ihre Erkenntnis von sich gegeben haben, fragt er nach der „Ursache“ für ihre Meinungen (Aussagen). Eine Frage, die uns der Physik zuzugehören scheint. Er versucht sich aber nicht mit einer „physikalischen“ Antwort etwa psychologischer oder soziologischer Art, sondern führt als Ursache eine weitere Meinung (Aussage) dieser Denker an, eine zugrundeliegende Meinung: daß nämlich die Sinnesdinge die einzigen Dinge seien. Für diese veränderlichen Dinge jedoch treffe die Aussage zu, daß sie ein Gemisch aus etwas und nichts seien, eigentlich schon mehr ein Nichts, denn sobald man über sie spreche, sind sie gar nicht mehr: der Fluß Heraklits ist im nächsten Moment schon gar nicht mehr da, „er“ fließt ja schon im selben Moment weg.
Dagegen Aristoteles: wenn etwas sich ändert, wenn etwas entsteht oder vergeht, so muß es doch Voraussetzungen, Bedingungen, ein Woraus und ein Worin geben, welche dableiben und gleichbleiben. Ich würde sagen, jedwede Veränderung setzt stabile Elemente voraus, an denen und gegen die die Veränderung überhaupt wahrnehmbar ist. Dabei handelt es sich um Umweltbedingungen, Rahmenbedingungen, die gar nicht weit weg sein müssen. Daß ein Fluß fließt, sieht man im Kontrast zum ruhig bleibenden Ufer. Wird dieses auch weggerissen, während man als Beobachter am Ufer steht, so steht man nicht lange und die Beobachtung wird beendet (vielleicht für immer). Tatsächlich bewegt sich auch das ruhige Ufer ständig mit der Drehung der Erdkugel in rasendem Tempo gen Osten – aber diese Bewegung, welche uns selber mit fortreißt, bemerken wir nicht, sie würde unser Wahrnehmen unmöglich machen. Die Wissenschaft kann sie nur feststellen, indem sie eine andere stabile Kontrastfolie aufstellt.

Aristoteles reißt hier selber die kosmologische Perspektive auf, welche ihm die Bahnung der „Metaphysik“ eröffnet: der gesamte Weltraum wird in zwei konzentrische Sphären unterteilt: „bei uns“ auf der Erde und in ihrer Nähe sind die Dinge veränderlich und beweglich, weiter draußen bzw. weiter oben, erstreckt sich ein viel weiterer Raum, Aristoteles nennt ihn „Himmel“, wo die Dinge unveränderlich und unvergänglich sind. Die Sophisten machen den Fehler, die hiesige Veränderlichkeit auf den Himmel zu projizieren. Wenn man schon das gesamte All „gleichschalten“ wollte, sollte man eher die kleine menschlich-irdische Sphäre an die große himmlische angleichen. So meint hier ein übereifrig platonisierender Aristoteles – doch würde er damit seine Wissenschaftserfindung dementieren: die Wissenschaft von der veränderlichen Dingen.
Übrigens hat die neuzeitliche Physik die Gleichschaltung doch vollzogen: einerseits in der sophistischen Richtung der Bewegung überall, andererseits in der Gegenrichtung einer Uranisierung des Irdischen: denn die lineare Fallbewegung „neigt“ zur Kreisbewegung – und diese ist für Aristoteles das Übergangsphänomen zur Unbewegtheit.
Aristoteles sieht das Element der Unbewegtheit keineswegs nur im fernen Himmel – sondern auch in jedem hiesigen Ding: zumindest in der Wesensform. Und was die Großbewegungen im Himmel betrifft, so sind sie es, die jedenfalls vorläufig die Stabilität unserer Makrosituation garantieren: Jahre und Jahreszeiten, Tag und Nacht.

Walter Seitter


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Sitzung vom 4. Juni 2014

Freitag, 6. Juni 2014

In der Metaphysik lesen (1009b 1–1009b 38)

Im letzten Protokoll deutete ich eine Aristoteles-Struktur an, die sich aus seinen drei philosophischen Herkünften ergibt, welche sich gegenseitig kritisieren und relativieren und sozusagen halbieren. Die platonische, die naturphilosophische und die sophistische Herkunft sind in dieser Reihenfolge bekannt: die platonische ist die bekannteste, die sophistische ist die unbekannteste; vielleicht ist sie auch die „schwächste“ – jedenfalls „schwächt“ sie entscheidend die beiden anderen, viel „stärkeren“. Die drei schwächen sich gegenseitig und wenn man sie sich als Ringe vorstellt, könnte man sie sich eher als Halbringe, Ringfragmente denken, um Aristoteles als Zusammensetzung aus Halbplatoniker, Halbnaturkundler und Halbsophisten darstellen zu können.

Zwei gebrochene Ringe

Die drei gebrochenen Ringe bilden ineinander verkettet eine Ringkette – aber eine leicht lösbare. Insofern vergleichbar mit einer „borromäischen“ Kette – die aber technisch ganz anders geartet ist (und nicht nur zirkulär sondern auch linear gefügt sein kann).
Jacques Lacan hat 1973 ausgehend vom Seemannsknoten den sogenannten „Borromäischen Knoten“ konstruiert, der gar kein Knoten ist sondern eine Kette.[1] Die Form der aus drei Ringen gefügten Kette hat ihm dann dazu gedient, den Zusammenhang der drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen darzustellen.[2] Man könnte nun eine Analogie zwischen dieser Konstruktion Lacans und der von mir vorgeschlagenen Aristoteles-Struktur aus platonischer, naturphilosophischer und sophistischer Herkunft annehmen, indem man den platonischen Anteil dem Symbolischen, den naturphilosophischen dem Realen, den sophistischen dem Imaginären zuordnet.

Im Buch IV stellt Aristoteles den Bezug zu den genannten drei philosophischen Traditionslinien ausschließlich kritisch her - und zwar schärfer, polemischer und hartnäckiger als in den ersten Büchern. Erst hier beginnt er die Auseinandersetzung mit den Sophisten – bekanntlich die Lieblingsfeinde von Sokrates-Platon. Und indem er die Kritik an den Sophisten eng mit derjenigen an den Naturphilosophen verbindet, teilweise sogar vermischt, arbeitet er – wenngleich negativ – an der Zusammenfügung der von ihm relativierten und modifizierten und übernommenen philosophischen Traditionen.
In 1009a 1 ff. referiert Aristoteles die sophistische Ansicht, wonach die Wahrheit in den Erscheinungen liege, diese aber hängen von den Sinnesempfindungen ab, welche zwischen menschlichen Individuen, zwischen unterschiedlichen Arten von Lebewesen und sogar bei einem Individuum von Mal zu Mal unterschiedlich ausfallen. Deshalb seien alle diese Empfindungen wahr – denn die Mehrzahl von gleichen Empfindungen könne ja wohl nicht als Wahrheitskriterium dienen (wenngleich demokratische Abstimmungen so funktionieren). Naturphilosophische Theoretiker würden denselben Ansichten zuneigen und sie sogar radikalisieren, indem sie Sinnesempfindung und Verstandeserkenntnis gleichsetzen. Hier nennt Aristoteles Demokrit,  er zitiert Empedokles und Parmenides, der sogar den nous von den körperlich zustandegekommenen Empfindungen abhängig macht. Er stellt auch Anaxagoras in die Reihe dieser „Relativisten“ und sogar Homer wird mit einem – allerdings ungewissen - Zitat die Aussage zugeschrieben, ein Bewußtloser denke nicht etwa „daneben“ sondern nur „anders“.
Aristoteles hält diese Lage für äußerst unangenehm und schwierig, er ist geradezu entsetzt. Wenn sogar die Genannten, die ja die Wahrheit am meisten geschaut – weil gesucht und geliebt – haben, sich so über sie äußern, wie sollen dann die jungen Zöglinge der Philosophie nicht allen Mut sinken lassen? Hier spricht nun vor allem der Platon-Schüler und sozusagen platonische Philosophie-Lehrer und man sieht, daß die aristotelische Zusammenfügung der verschiedenen Philosophie-Traditionen kein bedächtiges Zusammenbauen gewesen ist sondern über das Zerschlagen einmal dieses Ringes mithilfe jenes und dann jenes Ringes durch einen wiederum anderen vonstatten gegangen ist. Jede dieser Traditionen war ihm ein Konstrukt von Aporien, das zerschlagen oder vielmehr durchgearbeitet und mithilfe anderer Stücke umgebaut werden mußte – um vielleicht schließlich einen größeren Bau zusammenzubringen.


Walter Seitter


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Sitzung vom 4. Juni 2014


[1] Siehe Jacques Lacan: Seminar XX: Encore (Weinheim 1986): 131ff.
[2][2] Zu diesen drei Registern oder Aggregatzuständen siehe Paul-Laurent Assoun: Lacan (Paris 2003): 31-62.