τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 20. März 2014

In der Metaphysik lesen (1005b 17 – 1006a 12)


Die beiden im letzten Protokoll formulierten Eigentümlichkeiten des Dichtwerks (nach Aristoteles) – nämlich die logische und die physische, lassen sich zu einer einzigen zusammensetzen: ein Dichtwerk ist eine unwahrscheinliche Wirkungseinheit (mit einem hohen Grad von Negentropie).
Das gesuchte erste Axiom lautet: Es ist unmöglich, daß dasselbe demselben in derselben Beziehung zukommt und nicht zukommt (1005b 19). Dieser „Satz vom Widerspruch“, genauer wohl „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ kann als Grundprinzip der klassischen Logik etwa so erläutert werden: wer etwas sagt, muß mit seinen Worten etwas bezeichnen wollen. Wer etwas bezeichnen will, bezeichnet etwas Bestimmtes. Wenn etwas Bestimmtes bezeichnet wird, dann heißt das, daß die gebrauchten Worte nicht ebensogut etwas anderes bezeichnen können .... Gleichzeitig gilt der Satz auch als ontologisches Prinzip – in dem umgangssprachlichen Sinn, daß er für alle Aussagen über Wirklichkeit gilt. Etwa: Seiendes ist seiend und nicht nicht seiend. Wenn etwas ist, ist es und nicht etwa nicht. Wenn etwas so ist, wie es ist, dann ist es so, wie es ist und nicht anders.
Beide „Richtungen“ des Satzes widersprechen einander überhaupt nicht, vielmehr implizieren sie einander.
An der Stelle, wo Aristoteles ihn hier einführt, läßt er sich jedoch auch noch „spezifisch aristotelisch“ einordnen. Ob er selber „nur“ logisch oder doch auch „ontologisch“ zu verstehen ist: in Metaphysik IV wird er als eine weitere – und überraschende – Seinsmodalität des Seienden als solchen eingeführt. Überraschend weil ein „bloßer Satz“ eine Seinsmodalität sein soll. Nicht überraschend weil er in seinem ontologischen Gehalt – wie eben erläutert – ganz auf Identität insistiert: was ja dem Hauptduktus der aristotelischen Ontologie voll entspricht. Ein bißchen doch wieder überraschend, weil er sich mit dieser Identitäts-Insistenz dem Differenz-Duktus der aristotelischen Ontologie zu verweigern scheint. Die aristotelische Ontologie setzt identitär ein und entfaltet sich dann sehr differenzial – bis hin zur glatten Negation. Aber diese Differenzial-Entfaltung inkludiert das Nicht-Seiende weniger mit Aussagen als vielmehr mit Thematisierungen.
Soviel zum „Satz an sich“, bei dem sich Aristoteles gar nicht lange aufhält. Er geht gleich auf eine andere Ebene über, eigentlich hat er diese dem Satz schon vorgeschaltet: die Ebene menschlicher Verhaltensweisen gegenüber diesem Satz, insbesondere „negativer“ Verhaltensweisen (die aber von vornherein nur „negativ“ eingeführt werden). Da wird der prominente Negator Heraklit genannt – aber er und der Satz werden gleich mit drei verschiedenen Menschenverhalten umkleidet: einige „meinen“, daß Heraklit „sagt“ – was er er oder sonst einer (wenn er das sagt) gar nicht notwendigerweise auch „annimmt“. Also ein Eiertanz um den den aristotelischen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch leugnenden Heraklit herum. Meinen, sagen, annehmen – diese drei „erkenntnispolitischen“ Verhalten werden unterschieden und zusammengefügt, um die heikle Erkenntnissituation des Satzes zu erläutern. In einem Nachsatz wird die Annahme der Leugnung des Satzes durch den Leugner sogar als unmöglich bezeichnet – denn der Leugner würde entgegengesetzte Meinungen haben. Wir können sagen, daß Aristoteles mit diesen anthropographischen, erkenntnispolitischen Argumenten den Satz „beweisen“ will – obwohl er „an sich“ nicht bewiesen werden kann. Quasi-Beweis mit „argumentum ad hominem“.
Anschließend vermehrt Aristoteles die Zahl derer, welche die Satz-Leugnung vertreten – Aristoteles: sie gebrauchen diese Rede. Es sind „viele auch von denen über die Natur“ (1006a 2).
Diejenigen, die hier einen Beweis fordern, ein wiederum anderes erkenntnispolitisches Verhalten, tun das aufgrund von „Unbildung“ – auch das eine erkenntnispolitische Qualifizierung (wobei die Urheber der Unbildung nicht PISA-mäßig erfaßt sind). Aristoteles behauptet, daß nicht alle Sätze bewiesen werden können – und daß sich unter diesen auch höchste Prinzipien-Sätze befinden, ohne welche gar kein Beweis möglich wäre.

Am 3. Februar habe ich von Kurt Flasch die Aussage über Nikolaus von Kues zitiert, derzufolge dieser die aristotelische Kategorienordnung (Priorität der Substanz) in Frage gestellt habe. Wie wir wissen, kommt sowas auch bei Aristoteles vor und in gewissem Sinn geht auch die Serie der Seinsmodalitäten etwas in diese Richtung. Aber bei Kues sollen auch schlimmere Sachen vorkommen: Leugnung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch durch die theologische Bestimmung Gottes als „coincidentia oppositorum“: er ist der höchste und der geringste usw..[1] Kues macht solche Aussagen jedenfalls zunächst von dem Gott, der damals bereits tausenderlei Bestimmungen biblischer, theologischer, philosophischer Herkunft bekommen hatte. Aristoteles würde einen solchen Gott eher von sich weisen und sähe daher keinen Anlaß, sich von ihm diesen Satz, welcher „von Natur aus der Ursprung der anderen Axiome“ ist (1005b 34), in Frage stellen zu lassen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 19. März 2014


[1]Siehe Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung (Frankfurt 1998): 105ff.

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