Dank einigen Stimmen in
unserer kleinen Runde haben wir die zehn Zeilen (1004b 18 – 27) nicht
überlesen, die Aristoteles in die wissenschaftstheoretischen Überlegungen des
Kapitels 2 (Buch IV) einschiebt. Es handelt sich um die höchst befremdlichen
äußerst polemischen „Abrechnungen“ mit zwei Schulen, die sich als
philosophische ausgeben, von Aristoteles jedoch aus der Philosophie
ausgeschlossen werden. Aristoteles war schon vielfach – vor allem im Buch I,
auch im Buch III – auf andere Philosophen eingegangen, insbesondere auf
vorausliegende, die er einerseits als verdienstreiche, aber auch als
unzureichende Vorläufer behandelt hatte. Wenige Zeilen nach den eben genannten
wird er übrigens wieder in gewohnter Weise auf die Thesen jener Vorläufer ganz
kurz eingehen.
Wen aber meint er mit den
„Dialektikern“ und den „Sophisten“? Erstere waren in Buch I (987b 33) ganz kurz
und indirekt erwähnt worden: es müssen wohl Platoniker sein – und zwar mit ihm
zeitgenössische (also nicht Platon selber), welche er an die Pythagoräer
annähert.[1]
Neben diese zeitgenössischen Platoniker werden als weitere Nicht-Philosophen,
explizit als Schein-Philosophen, die „Sophisten“ gestellt, die hier zum ersten
Mal auftauchen: auch sie als Zeitgenossen. Sie sind uns aber einigermaßen
„bekannt“ – denn sie waren schon von Sokrates-Platon als die großen Widersacher
erkannt und bekämpft worden.[2] Aristoteles tut hier also
nichts anderes als die zwei „historischen Feinde“ – platonische und
sophistische „Philosophen“ – zu einem Doppelpaket zusammenschnüren und zu seinem
aktuellen Feindbild aufbauen, ausbauen. Ein ansehnliches Doppel-Feind-Bild.
Wieso dieser neue Ton im
Umgang mit „anderen“ Philosophen? Aristoteles deutet einen sachlichen Grund an:
beide schlüpfen in die Gestalt des Philosophen, beide reden genau über die
philosophischen Themen, das Thema, das allen gemeinsam ist, also Dialektikern,
Sophisten und ihm selber, ist justament „das Seiende“. Aristoteles betont diese
präzise Gemeinsamkeit. Und die hat nun gerade im Buch IV ihre engste Zuspitzung
erfahren: jetzt hat Aristoteles die Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“
verschärft durch die Wiederholung, die tautologische Wiederholung „des
Seienden“. Indem die Konkurrenten sich genau auf diesen sehr speziellen
Gegenstand kaprizieren – ihn aber gleichwohl verfehlen, werden aus Kollegen,
Konkurrenten, Gegnern nicht bloß Feinde. „Feinde“ das ist immerhin noch eine
politische Kategorie. Es werden aus ihnen solche, die nur noch mit einem
„ontologischen“ Negativ-Vorzeichen angeschrieben werden können: mit „Schein-“,
oder „Un-“, oder „Nicht-“.[3] Im Ergebnis verfehlen sie den
gemeinsam mit allen gesuchten Gegenstand. Sie verfehlen ihn aber nicht aufgrund
zufälliger Fehlleistungen – wie das bei einem schwierigen Gegenstand eben
vorkommen kann, weshalb ja auch die Philosophen gelegentlich in „Aporien“
verstrickt sind. Sie verfehlen ihn aufgrund habitueller Fehleinstellungen, die
Aristoteles nur indirekt bezeichnet, indem er die richtigen Einstellungen, die
sich bei den Philosophen finden, andeutet – aber nur knapp: nämlich „Wendung
des Vermögens“ und „Entscheidung für die Lebensweise“.
Die zweite Formel bezeichnet
den Unterschied des Philosophen gegenüber dem Sophisten und da kann man die
„praktische“ Weichenstellung vermuten, die auch für eine theoretische Wissenschaft,
jedenfalls die höchste theoretische Wissenschaft, notwendig oder sagen wir
„entscheidend“ ist. Die andere Formel, die mit dem „Vermögen“ könnte in
Richtung einer „poietischen“ oder „technischen“ Voraussetzung für Philosophie
gedeutet werden. Gilt das auch für die „Wendung“ – oder liegt da eher ein
praktisches Moment? Ist die „gesuchte Wissenschaft“ auch eine „praktische“
Leistung? Auch eine „poietisch-technische“?
Ein riesiger historischer
Sprung. Anfang der Dreißigerjahre, wenige Jahre nach Sein und Zeit, hat
Heidegger die „ontologische“ Fragerichtung weiterzutreiben versucht. Und da kam
ihm von außen eine politisch-ethische Herausforderung entgegen – oder wie er
zunächst meinte, sie kam ihm gerade recht. Derzeit, nämlich 2014, erscheinen erstmalig private, von Heidegger
lebenslänglich geheimgehaltene Schriften aus jener Zeit. Daraus einige Zitate,
die zeigen, zu welchen Verrenkungen ontologisches Insistieren führen kann:
„Muß der große Alleingang gewagt werden, schweigend – in das Dasein, wo
das Seiende seiender wird?“. „Dem Seyn im Begriff eine Bahn brechen.“
„Ermächtigung des Seins – durch Abhandlungen? – Gewiß nicht – sondern allein
durch das Geschehen, das sich im geworfenen Verstehen, das sie verlangen,
zeitigt und einräumt.“ „Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu
dichten und sagen – er allein wird das Wesen der Theorie neu erobern und
endlich die Logik schaffen.“ (Zitate aus FAZ, 20. 2. 2014)
Walter Seitter
[1] Seine
„antipythagoräische“ Platon-Kritik war uns ja bereits aufgefallen. In der
Einleitung zur Loeb-Ausgabe wird die „fairness“ der aristotelischen
Platon-Kritik in Zweifel gezogen: XXII.
[2] Michel Foucault
macht den platonischen „Willen zur Wahrheit“ verantwortlich für eine neue
Diskurs-Politik: die Vertreibung des Sophisten. Siehe Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (München
1974): 12, 32. Ausführlich in ders.: Über
den Willen zum Wissen (Berlin 2012)
[3] Hier darf angemerkt
werden, daß die aristotelische Ontologie zwar vom Seienden hoch zwei ausgeht,
aber dann verschiedene Modalitäten, auch mit den eben genannten Präfixen
inkludiert. Ihr Insistieren auf dem Seienden inkludiert auch diverse
Desistenzen.
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