τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 6. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004a 2 – 1004b 8)

Das Buch IV der Metaphysik hat eine „neue“ Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“ eingeführt. Nicht mehr die Suche nach den entfernten Ursachen der Seienden sondern die Betrachtung des Seienden als Seienden macht Aristoteles ihr nun zur Aufgabe. Das mag so aussehen, daß die Untersuchung nicht mehr in die Ferne schweifen soll, sondern beim „Selben“ bleiben und es sozusagen tautologisch, verdoppelnd affirmieren soll. Dieser Eindruck könnte auch dadurch erzeugt werden, daß sich Aristoteles damit zu begnügen scheint, den üblichen Sprachgebrauch, sei es den philosophischen sei es den umgangssprachlichen, herbeizurufen und zum Maßstab zu machen. So als hätte er den linguistic turn schon vorweggenommen (allerdings unbewußt – und das wäre dann kein philosophischer turn).

Die erste Aussage, die er nach der genannten Bestimmung macht, ist so eine sprachbeschreibende – allerdings keine, die irgendeinen Singular beschwört (wie das Heidegger mit dem Infinitiv „sein“ gemacht hat). Vom Seienden wird gesagt, daß es vielfältig ausgesagt wird. Welche Vielfalt ist damit gemeint? Etwa die Vielfalt der Welt, mit ihren vielen Gattungen und Arten etwa anorganischer und organischer Natur? Oder gar das Gewimmel der Individuen – sei es der Steine, der Gräser, der Insekten, der Bücher? Weder noch. Er führt eine etwas kleinere Vielfalt vor, er nennt zehn Begriffe, doch auf die Zahl 10 kommt es nicht an. Es kommt auf den Charakter dieser ca. 10 Begriffe an: es sind formale Bestimmungen oder Positionierungen, von denen ungefähr fünf aus der Kategorienliste genommen sind, welche ihrerseits zehn Kategorien umfaßt. Übrigens gilt von den Kategorien das oben Gesagte, daß es sich nämlich um Aussageweisen handelt: wir sind ganz nahe an der Logik, beinahe an der Linguistik. Anstatt des Wesens und der 9 Akzidenzien werden hier genannt: das Wesen und vier der Akzidenzien sowie fünf andere Bestimmungen, die mit den Akzidenzien verwandt zu sein scheinen. Doch setzen sie sich noch radikaler vom Wesen ab, ja sie gipfeln in der Negation des Wesens oder sonstiger Bestimmungen. Man könnte formelhaft sagen: die 10 Bestimmungen umfassen A und Non-A oder Anti-A sowie ungefähr 8 unterschiedliche Zwischenpositionen.

Anstatt das „Seiende als Seiendes“ identitär zu wiederholen und zu beschwören, tut diese Untersuchungsrichtung es zerlegen, pluralisieren, zu wechselnd-wiederholendem Einsatz zwingen, dramatisieren. Aber immer noch es selber als solches. Schon im ersten Satz hat Aristoteles diese Pluralisierung angekündigt: das Seiende und „ta touto hyparchonta“: die ihm zugrundeliegenden, innewohnenden Bestimmungen, und zwar notwendig innewohnenden, die bei ihm Unterschwellig-Herrschenden (1003a 23). Ich nenne sie – vorläufig – notwendige Seinsmodalitäten. Notwendig sind sie entweder schlechthin oder einfach oder aber alternativ. Zum Beispiel das Akzidens der Relation – enthalten in jener Aufzählung: wenn zu jedem Wesen – mindestens – eine Relation gehört, dann bleibt doch offen: Relation zu was. Die alternativ-notwendigen Bestimmungen sind „entscheidend“: sie zwingen zu „Entscheidungen“: Relation entweder zu K oder M oder N ..... In den Menschenfassungen habe ich von „Unbestimmtheit und Bestimmungszwang“ gesprochen. Es gibt also einen „Dezisionismus“ nicht nur bei bösen Theoretikern wie Schmitt und Heidegger sondern in der Ontologie selber: Dezisionistik. Übrigens ist in jener Aufzählung auch die steresis enthalten: Privation oder Unbestimmtheit oder Unfähigkeit oder Lücke oder Mangel – eine bestimmte Negation, die alle irdischen Dinge mitkonstituiert (mit Materie und Form).

Die Operation der Zerlegung oder Zergliederung, mit der Aristoteles die von mir „Ontologie“ genannte Untersuchungsrichtung der „gesuchten Wissenschaft“ charakterisiert (daneben gibt es auch die von mir „Metaphysik“ genannte Untersuchung der entfernten Ursachen), wird von Aristoteles auch auf anderen Ebenen durchgeführt. Unterscheidung der Arten, womit es für jede Art eine spezifische Wissenschaft gibt. Die Vielzahl der Wesen führt auch zu einer Gliederung innerhalb der Philosophie – und zwar Gliederung in Teile, die hierarchisch strukturiert ist: die erste Philosophie und dann eine folgende Philosophie .... Analog dazu die Einteilung der Mathematik, die auch Teile hat, und diesen Teilen entsprechen dann eine erste, zweite usw. Mathematik. Also eine Pluralisierung der Wissenschaften innerhalb der Mathematik.

Das Wort „Philosophie“ kommt hier nicht zum allerersten Mal vor, aber im Buch IV taucht es unvermittelt auf, als ob klar wäre, daß die „gesuchte Wissenschaft“ ohnehin bereits diesen bekannten Namen hat. Daß diese Nennung der Philosophie sofort mit dem Vergleichsbeispiel „Mathematik“ versehen wird, zeigt an, daß sich das aristotelische Philosophieren nicht selbstgenügsam-kontinental im Horizont der Philosophie abspielt, sondern im Horizont der Wissenschaften, den man „analytisch“ nennen kann.

Anschließend greift die Operation der Zergliederung sehr scharf in jedwede Wissenschaft ein, insofern sie einen Gegenstand mitsamt seinem Gegenteil zu behandeln hat – allerdings mit Fokussierung des jeweils gewählten Gegenstandes. Zergliederung, Polarisierung, Dramatisierung des jeweiligen Gegenstandsfeldes. Ohne diese Fokussierung würde jede Wissenschaft einfach „alles“ behandeln – folglich gäbe es nur eine Wissenschaft, nämlich die von „allem“.

Gibt es nicht doch eine Wissenschaft, die für sich das Privileg beansprucht, „alles“ behandeln zu können? Dieser Anspruch wird öfter der Philosophie unterschoben. Und tatsächlich kommt Aristoteles gleich auf den Philosophen zu sprechen und schiebt ihm eine riesig klingende Kompetenz zu: „der Philosoph muß über alle Dinge Betrachtungen anstellen können“ (1004b 1).

Das heißt jedoch nicht, daß er „alles betrachten“ muß. Sondern daß er etwas können muß, und zwar über jedweden Gegenstand eine Betrachtung anstellen. Und zwar was für eine Betrachtung? Er muß nicht die Wissenschaft von jedem Gegenstand machen oder sie auch nur machen können. Er muß „nur“ so winzige Fragen behandeln können wie „Ist ‚Sokrates’ und der ‚sitzende Sokrates’ dasselbe?“, „Gibt es zu einem immer ein Gegenteil?“ „Was ist ein Gegenteil?“ „Wievielfach wird es ausgesagt?“ (1004b 3f.) Es geht um eine Mikroskopie und zwar um eine bestimmte: man kann sie „formalistisch“ nennen oder „modalistisch“. Es geht um die notwendigen Modalitäten des Seienden als solchen, welche Modalitätenanalyse man allerdings auf jeden Gegenstand anwenden kann – ohne daß damit auch die Einzelwissenschaft von dem betreffenden Gegenstand gemacht würde. Analyse der Kategorien (Wesen, Akzidenzien und Superakzidenzien) an einem Gegenstand als einem Seienden als solchem: Erkennen des Was und der Akzidenzien von Seienden als seienden (1004b 7). Es scheint, daß ausgerechnet diese „Ontologie“ sich mehr für die Akzidenzien interessiert als die übrigen Wissenschaften; denn Aristoteles betont immer wieder, daß es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt, womit er die normalen Wissenschaften meint.

Walter Seitter


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Sitzung vom 6. Februar 2014

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