Das Buch IV der Metaphysik
hat eine „neue“ Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“ eingeführt. Nicht
mehr die Suche nach den entfernten Ursachen der Seienden sondern die
Betrachtung des Seienden als Seienden macht Aristoteles ihr nun zur Aufgabe.
Das mag so aussehen, daß die Untersuchung nicht mehr in die Ferne schweifen
soll, sondern beim „Selben“ bleiben und es sozusagen tautologisch, verdoppelnd
affirmieren soll. Dieser Eindruck könnte auch dadurch erzeugt werden, daß sich
Aristoteles damit zu begnügen scheint, den üblichen Sprachgebrauch, sei es den
philosophischen sei es den umgangssprachlichen, herbeizurufen und zum Maßstab
zu machen. So als hätte er den linguistic turn schon vorweggenommen
(allerdings unbewußt – und das wäre dann kein philosophischer turn).
Die erste Aussage, die er
nach der genannten Bestimmung macht, ist so eine sprachbeschreibende –
allerdings keine, die irgendeinen Singular beschwört (wie das Heidegger mit dem
Infinitiv „sein“ gemacht hat). Vom Seienden wird gesagt, daß es vielfältig
ausgesagt wird. Welche Vielfalt ist damit gemeint? Etwa die Vielfalt der Welt,
mit ihren vielen Gattungen und Arten etwa anorganischer und organischer Natur?
Oder gar das Gewimmel der Individuen – sei es der Steine, der Gräser, der
Insekten, der Bücher? Weder noch. Er führt eine etwas kleinere Vielfalt vor, er
nennt zehn Begriffe, doch auf die Zahl 10 kommt es nicht an. Es kommt auf den
Charakter dieser ca. 10 Begriffe an: es sind formale Bestimmungen oder
Positionierungen, von denen ungefähr fünf aus der Kategorienliste genommen
sind, welche ihrerseits zehn Kategorien umfaßt. Übrigens gilt von den
Kategorien das oben Gesagte, daß es sich nämlich um Aussageweisen handelt: wir
sind ganz nahe an der Logik, beinahe an der Linguistik. Anstatt des Wesens und
der 9 Akzidenzien werden hier genannt: das Wesen und vier der Akzidenzien sowie
fünf andere Bestimmungen, die mit den Akzidenzien verwandt zu sein scheinen.
Doch setzen sie sich noch radikaler vom Wesen ab, ja sie gipfeln in der Negation
des Wesens oder sonstiger Bestimmungen. Man könnte formelhaft sagen: die 10
Bestimmungen umfassen A und Non-A oder Anti-A sowie ungefähr 8 unterschiedliche
Zwischenpositionen.
Anstatt das „Seiende als
Seiendes“ identitär zu wiederholen und zu beschwören, tut diese
Untersuchungsrichtung es zerlegen, pluralisieren, zu wechselnd-wiederholendem
Einsatz zwingen, dramatisieren. Aber immer noch es selber als solches. Schon im
ersten Satz hat Aristoteles diese Pluralisierung angekündigt: das Seiende und
„ta touto hyparchonta“: die ihm zugrundeliegenden, innewohnenden Bestimmungen,
und zwar notwendig innewohnenden, die bei ihm Unterschwellig-Herrschenden
(1003a 23). Ich nenne sie – vorläufig – notwendige Seinsmodalitäten. Notwendig
sind sie entweder schlechthin oder einfach oder aber alternativ. Zum Beispiel
das Akzidens der Relation – enthalten in jener Aufzählung: wenn zu jedem Wesen
– mindestens – eine Relation gehört, dann bleibt doch offen: Relation zu was.
Die alternativ-notwendigen Bestimmungen sind „entscheidend“: sie zwingen zu
„Entscheidungen“: Relation entweder zu K oder M oder N ..... In den Menschenfassungen
habe ich von „Unbestimmtheit und Bestimmungszwang“ gesprochen. Es gibt also
einen „Dezisionismus“ nicht nur bei bösen Theoretikern wie Schmitt und
Heidegger sondern in der Ontologie selber: Dezisionistik. Übrigens ist in jener
Aufzählung auch die steresis enthalten: Privation oder Unbestimmtheit
oder Unfähigkeit oder Lücke oder Mangel – eine bestimmte Negation, die alle
irdischen Dinge mitkonstituiert (mit Materie und Form).
Die Operation der
Zerlegung oder Zergliederung, mit der Aristoteles die von mir „Ontologie“
genannte Untersuchungsrichtung der „gesuchten Wissenschaft“ charakterisiert
(daneben gibt es auch die von mir „Metaphysik“ genannte Untersuchung der
entfernten Ursachen), wird von Aristoteles auch auf anderen Ebenen
durchgeführt. Unterscheidung der Arten, womit es für jede Art eine spezifische
Wissenschaft gibt. Die Vielzahl der Wesen führt auch zu einer Gliederung
innerhalb der Philosophie – und zwar Gliederung in Teile, die hierarchisch
strukturiert ist: die erste Philosophie und dann eine folgende Philosophie ....
Analog dazu die Einteilung der Mathematik, die auch Teile hat, und diesen
Teilen entsprechen dann eine erste, zweite usw. Mathematik. Also eine
Pluralisierung der Wissenschaften innerhalb der Mathematik.
Das Wort „Philosophie“
kommt hier nicht zum allerersten Mal vor, aber im Buch IV taucht es
unvermittelt auf, als ob klar wäre, daß die „gesuchte Wissenschaft“ ohnehin
bereits diesen bekannten Namen hat. Daß diese Nennung der Philosophie sofort
mit dem Vergleichsbeispiel „Mathematik“ versehen wird, zeigt an, daß sich das
aristotelische Philosophieren nicht selbstgenügsam-kontinental im Horizont der
Philosophie abspielt, sondern im Horizont der Wissenschaften, den man
„analytisch“ nennen kann.
Anschließend greift die
Operation der Zergliederung sehr scharf in jedwede Wissenschaft ein, insofern
sie einen Gegenstand mitsamt seinem Gegenteil zu behandeln hat – allerdings mit
Fokussierung des jeweils gewählten Gegenstandes. Zergliederung, Polarisierung,
Dramatisierung des jeweiligen Gegenstandsfeldes. Ohne diese Fokussierung würde
jede Wissenschaft einfach „alles“ behandeln – folglich gäbe es nur eine
Wissenschaft, nämlich die von „allem“.
Gibt es nicht doch eine
Wissenschaft, die für sich das Privileg beansprucht, „alles“ behandeln zu
können? Dieser Anspruch wird öfter der Philosophie unterschoben. Und
tatsächlich kommt Aristoteles gleich auf den Philosophen zu sprechen und schiebt
ihm eine riesig klingende Kompetenz zu: „der Philosoph muß über alle Dinge
Betrachtungen anstellen können“ (1004b 1).
Das heißt jedoch nicht,
daß er „alles betrachten“ muß. Sondern daß er etwas können muß, und zwar über
jedweden Gegenstand eine Betrachtung anstellen. Und zwar was für eine
Betrachtung? Er muß nicht die Wissenschaft von jedem Gegenstand machen oder sie
auch nur machen können. Er muß „nur“ so winzige Fragen behandeln können wie
„Ist ‚Sokrates’ und der ‚sitzende Sokrates’ dasselbe?“, „Gibt es zu einem immer
ein Gegenteil?“ „Was ist ein Gegenteil?“ „Wievielfach wird es ausgesagt?“
(1004b 3f.) Es geht um eine Mikroskopie und zwar um eine bestimmte: man kann
sie „formalistisch“ nennen oder „modalistisch“. Es geht um die notwendigen
Modalitäten des Seienden als solchen, welche Modalitätenanalyse man allerdings
auf jeden Gegenstand anwenden kann – ohne daß damit auch die Einzelwissenschaft
von dem betreffenden Gegenstand gemacht würde. Analyse der Kategorien (Wesen,
Akzidenzien und Superakzidenzien) an einem Gegenstand als einem Seienden als
solchem: Erkennen des Was und der Akzidenzien von Seienden als seienden (1004b
7). Es scheint, daß ausgerechnet diese „Ontologie“ sich mehr für die
Akzidenzien interessiert als die übrigen Wissenschaften; denn Aristoteles
betont immer wieder, daß es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt, womit
er die normalen Wissenschaften meint.
Walter Seitter
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Sitzung vom 6. Februar
2014
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