τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 27. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (Ontologie der Sprache)

Die Definition der gesuchten Wissenschaft als Ontologie im Buch IV geht bei Aristoteles mit einer gewissen „Verschärfung“ Hand in Hand – so jedenfalls im Umgang mit „anderen“ Philosophen. Ausgerechnet in diesem Buch findet sich auch die ziemlich sensualistische Aussage, daß jede Wissenschaft in einer Gattung von sinnlich wahrnehmbaren Elementen ihre Basis habe: für die Grammatik seien das die Laute (1003b 21). Gilt das auch für die Ontologie? Wo könnte diese ihre sinnlichen Elemente haben?

Anstatt diese Frage in dieser extremen – und wohl eher aussichtslosen Weise – zu stellen, machen wir einen Kompromiß zwischen Ontologie und „Grammatik“, denken uns eine „Ontologie der Sprache“, also eine Wissenschaft, die von Elementen der Sprache ausgeht, welche sie „ontologisch“ faßt: also als Seiende als solche – analog zum aristotelischen Seienden, das ja „absolut“, also losgelöst, thematisiert wird.

In der Archäologie des Wissens (Frankfurt 1973) erprobt Michel Foucault eine Sprachphilosophie, der man „ontologischen“ Charakter zusprechen kann. Er geht nicht von den Lauten aus, jedenfalls nicht von den Einzellauten, die ja noch keine Bedeutung haben. Auch nicht von den kleinsten Einheiten, die schon Bedeutung haben, also den Wörtern. Sondern von der kleinsten Einheit mit der vollen Bedeutung von Sprechen, Mitteilen, Aussage. Aristoteles nennt das in der Poetik „logos“ – womit allerdings auch größere Ensembles gemeint sein können, wie etwa ganze Dichtwerke.

Foucault nennt dieses Niveau „Aussage“, wenn er die kleinste Einheit betrachtet, oder „Diskurs“, wenn er größere Ensembles im Auge hat. Allerdings geht es ihm darum, innerhalb der sprachlichen oder sonstwie kundtuenden Tätigkeiten bzw. Tatsachen die elementarste Ebene herauszuarbeiten, was er mit großer Umständlichkeit und mit unaufhörlichen Abgrenzungen auch tut. Diese Ebene ist die minimalste: nämlich das bloße „es gibt“ von sprachlichen oder ähnlichen Akten, die Instanz ihres Erscheinens im ständigen Widerspiel mit dem noch nicht und dem nicht mehr ihres Erscheinens: also Auftauchen, Existenz, Verschwinden (161ff., 243, 249). Entspricht dieses Niveau dem, was Aristoteles mit der Betrachung des Seienden als Seienden meint? Wohl nicht in dem Sinn, daß diese Betrachtung ständig auf das „Wesen“ bezogen bleibt. Wohl aber in dem Sinn, daß alle Seinsmodalitäten, auch die negativen und die konträren einbezogen werden. Mit dem Widerspiel von Sein und Nicht-Sein (der Sprache) habe ich jedoch nur einen Punkt, vielleicht den zentralen, des Eigentümlichen der Aussage genannt. Foucault spinnt darum herum ein ganzes Netz aus Korrelierungen, die insgesamt dann doch so etwas wie das Wesen zusammensetzen: aber eines, das nicht von vornherein gegeben ist und alles bestimmt, sondern eines, das mühsam und ständig gefährdet und ständig transformierbar zu eruieren ist.

Damit klingt schon an, daß es mit der Erkennbarkeit dieser Aussage nicht sehr gut steht. Keine Spur von sicherer Wahrnehmbarkeit, wie sie etwa den Lauten, den Sätzen, den Texten eignet. Da es um deren bloßes „es gibt“ geht, um das pure und minimale Aufscheinen, schwankt sie zwischen Verborgenheit und Sichtbarkeit. Da sie andererseits ständig und selbstverständlich irgendwie da ist, wird sie umso leichter übersehen (analog zu den doch massiven Tatsachen des Lichtes, der Luft).

„Man bedarf einer bestimmten Wendung des Blicks und der Haltung, um sie erkennen und an ihr selber ins Auge zu fassen können.“ (161).
Die epistemologische Voraussetzung der Ontologie wird von Foucault genau mit derselben „Wendung“ formuliert, wie Aristoteles das tut: nur daß dieser die Wendung generisch-allgemein formuliert: „Wendung des Vermögens“ (zur Abgrenzung des Philosophen von den „Dialektikern“ – das sind die diejenigen, die die Methode des Diskutierens verabsolutieren). Mit Diskutieren, Rechthaben, Wortspielen allein kann man die ontologische „Einstellung“ nicht erlangen (auch wenn man sich verbal ganz darauf festlegt, was die Dialektiker offensichtlich tun). Es gilt aber auch etwas Gegenteiliges bei Aristoteles: er tut nicht so, als wäre diese „Ontologie“ die einzig wahre Einstellung. Erstens bildet sie nur eine Linie innerhalb der gesuchten Wissenschaft. Und zweitens gibt es auch noch viele andere Wissenschaften – zum Beispiel von der Sprache die Grammatik.
In seinen späten Jahren hat Foucault noch eine ganz andere Spielart von „Ontologie der Sprache“ entworfen, die noch stärker das Tun, das Ereignis des Sprechens vor dem Hintergrund des Nicht-Sprechens abzeichnet. Das Sprechen in riskanten Situationen, wo das Nicht-Sprechen „leichter“, jedenfalls bequemer, ja sogar weniger gefährlich wäre. Wo die bekannte ontologische Grundfrage so umformuliert werden muß: Warum soll ich hier und jetzt etwas sagen und nicht vielmehr, nicht viel lieber – nichts? Siehe dazu Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia (Berlin 1996).

Bei Foucault jedenfalls, vielleicht aber auch bei Aristoteles, ist die „Ontologie“ eine Krisen-Angelegenheit. 

Walter Seitter


Sitzung vom 26. Februar 2014
 

Montag, 24. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004b 18 –27)

Dank einigen Stimmen in unserer kleinen Runde haben wir die zehn Zeilen (1004b 18 – 27) nicht überlesen, die Aristoteles in die wissenschaftstheoretischen Überlegungen des Kapitels 2 (Buch IV) einschiebt. Es handelt sich um die höchst befremdlichen äußerst polemischen „Abrechnungen“ mit zwei Schulen, die sich als philosophische ausgeben, von Aristoteles jedoch aus der Philosophie ausgeschlossen werden. Aristoteles war schon vielfach – vor allem im Buch I, auch im Buch III – auf andere Philosophen eingegangen, insbesondere auf vorausliegende, die er einerseits als verdienstreiche, aber auch als unzureichende Vorläufer behandelt hatte. Wenige Zeilen nach den eben genannten wird er übrigens wieder in gewohnter Weise auf die Thesen jener Vorläufer ganz kurz eingehen.
Wen aber meint er mit den „Dialektikern“ und den „Sophisten“? Erstere waren in Buch I (987b 33) ganz kurz und indirekt erwähnt worden: es müssen wohl Platoniker sein – und zwar mit ihm zeitgenössische (also nicht Platon selber), welche er an die Pythagoräer annähert.[1] Neben diese zeitgenössischen Platoniker werden als weitere Nicht-Philosophen, explizit als Schein-Philosophen, die „Sophisten“ gestellt, die hier zum ersten Mal auftauchen: auch sie als Zeitgenossen. Sie sind uns aber einigermaßen „bekannt“ – denn sie waren schon von Sokrates-Platon als die großen Widersacher erkannt und bekämpft worden.[2] Aristoteles tut hier also nichts anderes als die zwei „historischen Feinde“ – platonische und sophistische „Philosophen“ – zu einem Doppelpaket zusammenschnüren und zu seinem aktuellen Feindbild aufbauen, ausbauen. Ein ansehnliches Doppel-Feind-Bild.

Wieso dieser neue Ton im Umgang mit „anderen“ Philosophen? Aristoteles deutet einen sachlichen Grund an: beide schlüpfen in die Gestalt des Philosophen, beide reden genau über die philosophischen Themen, das Thema, das allen gemeinsam ist, also Dialektikern, Sophisten und ihm selber, ist justament „das Seiende“. Aristoteles betont diese präzise Gemeinsamkeit. Und die hat nun gerade im Buch IV ihre engste Zuspitzung erfahren: jetzt hat Aristoteles die Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“ verschärft durch die Wiederholung, die tautologische Wiederholung „des Seienden“. Indem die Konkurrenten sich genau auf diesen sehr speziellen Gegenstand kaprizieren – ihn aber gleichwohl verfehlen, werden aus Kollegen, Konkurrenten, Gegnern nicht bloß Feinde. „Feinde“ das ist immerhin noch eine politische Kategorie. Es werden aus ihnen solche, die nur noch mit einem „ontologischen“ Negativ-Vorzeichen angeschrieben werden können: mit „Schein-“, oder „Un-“, oder „Nicht-“.[3] Im Ergebnis verfehlen sie den gemeinsam mit allen gesuchten Gegenstand. Sie verfehlen ihn aber nicht aufgrund zufälliger Fehlleistungen – wie das bei einem schwierigen Gegenstand eben vorkommen kann, weshalb ja auch die Philosophen gelegentlich in „Aporien“ verstrickt sind. Sie verfehlen ihn aufgrund habitueller Fehleinstellungen, die Aristoteles nur indirekt bezeichnet, indem er die richtigen Einstellungen, die sich bei den Philosophen finden, andeutet – aber nur knapp: nämlich „Wendung des Vermögens“ und „Entscheidung für die Lebensweise“.
Die zweite Formel bezeichnet den Unterschied des Philosophen gegenüber dem Sophisten und da kann man die „praktische“ Weichenstellung vermuten, die auch für eine theoretische Wissenschaft, jedenfalls die höchste theoretische Wissenschaft, notwendig oder sagen wir „entscheidend“ ist. Die andere Formel, die mit dem „Vermögen“ könnte in Richtung einer „poietischen“ oder „technischen“ Voraussetzung für Philosophie gedeutet werden. Gilt das auch für die „Wendung“ – oder liegt da eher ein praktisches Moment? Ist die „gesuchte Wissenschaft“ auch eine „praktische“ Leistung? Auch eine „poietisch-technische“?

Ein riesiger historischer Sprung. Anfang der Dreißigerjahre, wenige Jahre nach Sein und Zeit, hat Heidegger die „ontologische“ Fragerichtung weiterzutreiben versucht. Und da kam ihm von außen eine politisch-ethische Herausforderung entgegen – oder wie er zunächst meinte, sie kam ihm gerade recht. Derzeit, nämlich 2014,  erscheinen erstmalig private, von Heidegger lebenslänglich geheimgehaltene Schriften aus jener Zeit. Daraus einige Zitate, die zeigen, zu welchen Verrenkungen ontologisches Insistieren führen kann:

„Muß der große Alleingang  gewagt werden, schweigend – in das Dasein, wo das Seiende seiender wird?“. „Dem Seyn im Begriff eine Bahn brechen.“ „Ermächtigung des Seins – durch Abhandlungen? – Gewiß nicht – sondern allein durch das Geschehen, das sich im geworfenen Verstehen, das sie verlangen, zeitigt und einräumt.“ „Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen – er allein wird das Wesen der Theorie neu erobern und endlich die Logik schaffen.“ (Zitate aus FAZ, 20. 2. 2014)


Walter Seitter
 



[1] Seine „antipythagoräische“ Platon-Kritik war uns ja bereits aufgefallen. In der Einleitung zur Loeb-Ausgabe wird die „fairness“ der aristotelischen Platon-Kritik in Zweifel gezogen: XXII.
[2] Michel Foucault macht den platonischen „Willen zur Wahrheit“ verantwortlich für eine neue Diskurs-Politik: die Vertreibung des Sophisten. Siehe Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (München 1974): 12, 32. Ausführlich in ders.: Über den Willen zum Wissen (Berlin 2012)
[3] Hier darf angemerkt werden, daß die aristotelische Ontologie zwar vom Seienden hoch zwei ausgeht, aber dann verschiedene Modalitäten, auch mit den eben genannten Präfixen inkludiert. Ihr Insistieren auf dem Seienden inkludiert auch diverse Desistenzen. 

Donnerstag, 20. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004b 18 – 1005a 18)


Wieso subsumiert Aristoteles die „gesuchte Wissenschaft“ unter die theoretischen Wissenschaften – neben und über Physik und Mathematik? Weil sich diese Wissenschaften mit Sachen beschäftigen, die so sind, wie sie sind – unabhängig vom Tun der Menschen. Die poietischen und die praktischen Wissenschaften beschäftigen sich mit dem Tun der Menschen – und zwar im Hinblick darauf, daß dieses Tun möglichst gut vonstatten gehen soll: zum einen das Herstellen von guten Dingen (im weiteren Sinn), zum andern das Gelingen von guten menschlichen Verhältnissen.

Die adverbialen Bestimmungen „gut“ oder „schlecht“ gibt es jedoch auch im Feld der theoretischen Wissenschaft. Schlechte Physiker, schlechte Mathematiker erkennt man daran, daß sie keine „wahren“ Aussagen auf ihren Gebieten zustandebringen, vielleicht sogar falsche vorbringen. Auf diesen Gebieten wird das aber nur in der Schule eine Rolle spielen – und mit schlechten Noten geahndet. Bei den Erwachsenen haben die einfach keine Chance und werden rücksichtslos eliminiert bzw. ignoriert. Es sei denn, in diesen Wissenschaften bricht eine sogenannte Grundlagenkrise aus, es tauchen neue Axiome auf, es kommt zu neuen, zu anders gearteten Ergebnissen, die man nicht mehr ignorieren kann, und die sich schließlich sogar durchsetzen. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die man nicht hochspielt, denn man möchte es mit sicherer „Normalwissenschaft“ zu tun haben. Allerdings läßt sich nicht verschweigen, daß es also doch in der Mathematik gute und sogar sehr gute Fachverteter gibt: die guten bewähren sich in der Normalwissenschaft, die sehr guten gründen neue Normalwissenschaften. Soll man „gut“ und „schlecht“ hier poietisch oder praktisch verstehen? Eher wohl poietisch, was impliziert, daß in theoretischen Wissenschaften nicht nur „betrachtet“ wird sondern auch etwas getan wird: es wird gesagt, diskutiert, es wird handwerklich gebastelt und experimentiert, es wird geschrieben. Hatte die Antike für diese Seite der theoretischen Wissenschaften irgendwelche Begriffe oder gar (Sub)Disziplinen? Ansatzweise sehr wohl, auch wenn sie kaum mit den theoretischen Wissenschaften in Verbindung gebracht wurden: die Disziplinen Logik (Denklehre), Dialektik (Argumentationslehre), Rhetorik (Redekunstlehre), Grammatik (Schreibkunde). Die Heuristik als Erfindungskunstlehre war in der Antike nicht sehr ausgeprägt, sie findet sich in den genannten Disziplinen, auch in der aristotelischen Topik.

Die Philosophie war schon in der Antike diejenige Wissenschaft, in der die Qualifizierungen „gut“ oder „schlecht“ eine große Rolle spielten, weil da die unterschiedlichen und feindlichen Richtungen  ständig koexistierten, ohne einander eliminieren zu können. Manche Richtungen wurden jedoch von anderen (und einflußreichen) sehr wohl verbal eliminiert und als „Nicht-Philosophen“, sogar „Anti-Philosophen“ etikettiert.

In unserem Text liefert Aristoteles, der doch im Buch I mit manchen Schulen unsanft aber doch diskussiv umgegangen war, ein Beispiel für polemischen, genaugenommen, eliminierenden – immerhin nur verbalen – Umgang mit feindlichen Schulen: Dialektiker und Sophisten. Sie beschäftigen sich mit den Themen der Philosophen, sind daher direkte Konkurrenten. Aber wodurch unterscheiden sie sich? Aristoteles verzichtet darauf, ihne falsche oder fragwürdige Aussagen nachzuweisen. Das hat er ja gelegentlich mit Pythagoräern und ähnlichen getan. Hier argumentiert er auf der Ebene des Verhaltens. Den Sophisten hält er sehr pauschal vor, daß sie nur zum Schein Philosophen sind, das heißt sie sind bloße Nachahmer. Ähnlich die Dialektiker, die über alles diskutieren, die alles versuchen, also vielleicht alles „andiskutieren“. Also eine gewisse Nähe zur „gesuchten Wissenschaft“, die ja eine suchende ist und sich durch die Aporien durcharbeiten will.

Aristoteles deutet die Unterscheidung an, indem er auf der Seite des Philosophen einige Punkte nennt: die Philosophie unterscheidet sich von der Dialektik „durch die Wendung des Vermögens“. „Wendung“ (tropos) ist genau das Wort, das Giannaras (allerdings gegen eine bestimmte westliche Substanz-Auffassung) vorgebracht hat. Was heißt hier „Wendung“? Es muß wohl eine bestimmte Wendung sein und nicht ein Sich-Wenden je nach dem Wind. Die Formulierung verweist auf eine Entscheidung und die geht in die Richtung von „Erkenntnis“. Die Unterscheidung der Philosophie von der Sophistik liegt in der „Wahl des Lebens, der Lebensweise“, geht also deutlicher in die Richtung eines „Praktischen“. Soll wohl heißen, daß die Entscheidung fürs Erkennen auch das Umfeld der praktischen Bedingungen und Konsequenzen einbezieht (was möglicherweise so etwas wie praktische Wissenschaft oder Philosophie impliziert) – gegen ein total „freies“ Herumtheoretisieren.

Mit den oben genannten „artes liberales“ war die Philosophie in die Nähe des „Poietischen“ gerückt worden. Nun hat aber Aristoteles schon im Buch I betont, daß die gesuchte Wissenschaft keine poietische ist (982b 11). Warum muß er das betonen? An der Stelle vielleicht, weil er gerade ausführt, daß zu den ersten Prinzipien und Ursachen, die zu betrachten sind, auch das Gute und das Weswegen gehören: die aber verweisen in die Dimension des Praktischen (im weiteren modernen Sinn). Noch weiter vorn war ausführlich von den Künsten die Rede gewesen, welche im stufenweisen Aufbau der Erkenntnisleistungen eine große Rolle spielen. Aber da hat Aristoteles die theoretischen Wissenschaften über die poietischen gestellt.

Walter Seitter

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Sitzung vom 19. Februar 2014

Donnerstag, 13. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004b 9 – 1004b 26)

In 1004b 7 nennt Aristoteles die drei Gegenstandsbereiche Zahlen, Linien, Feuer, die von „normalen“ Wissenschaften zu behandeln sind: Mathematik, Geometrie, „Feuerwissenschaft“ (als eine Abteilung der Physik, wobei das Feuer als „Element“ ein prominenter Gegenstand sein dürfte). Von diesen Gegenständen sind jeweils das Wesen und wohl auch die Akzidenzien zu untersuchen). Er nennt einige pathe (Leiden, Zustände) der Zahl bzw. des Festkörpers (er geht auf den Festkörper über und nähert sich damit seinem Buch Physik an), die von den entsprechenden Wissenschaften zu untersuchen sind. Auch wenn diese Bestimmungen nicht genau den Gesichtspunkten unserer heutigen Wissenschaften entsprechen, kann man sich ungefähr vorstellen, was damit gemeint ist.

Die Aussage, daß „jene Wissenschaft“, nämlich die gesuchte, das Was und die Akzidenzien des Einen als eines und des Seienden als seiendes erkennen soll, bleibt für uns doch ziemlich blaß und die polemische Absetzung von den Sophisten und von den Dialektikern macht die Sache auch kaum deutlicher. Wir beziehen das Akzidens pathos ausdrücklich auf das Seiende als solches und fragen, was denn dem Seienden „passieren“ muß, damit man von Leiden oder Gefährdung sprechen kann. Das Seiende ist der allgemeinste, gleichzeitig der vollste und der leerste Begriff – da muß man die Reihe der Modalitäten schon in ihrer ganzen Spannung und Dramatik (die bis zur Negation reicht) ernstnehmen, damit die Ontologie, die doch wohl auf irgendwelche bestimmten Realitäten bezogen werden muß, etwas zu tun bekommt.

Wir denken an die heideggersche „Seinsvergessenheit“: Sein und Seiendes als solches liegen ja nicht so weit auseinander. Die Seinsvergessenheit ist bei Heidegger ein historisches Schicksal, das dem Sein seine Bedeutung und sein Gewicht genommen zu haben scheint – sie liegt also auf der Linie der Seinsmodalitäten, sofern diese in die Negation münden: also tatsächlich ein pathos im wörtlichen Sinne. Der Vorgang, den Heidegger meint, hat allerdings nichts Pathetisches, eher etwas Stillschweigendes und Unbemerktes; Pathos kommt durch die Art und Weise auf, wie Heidegger darauf aufmerksam macht.

Eine derartige historische Deutung von „Ontologie“ mag dem herkömmlichen Aristoteles-Verständnis zuwiderlaufen; sie inspiriert sich immerhin aus der Aufzählung der Seinsmodalitäten in 1003b 7ff.. Auf keinen Fall darf sie etwas anderes vergessen lassen: daß Aristoteles alle diese Ausführungen in den Horizont der Wissenschaften stellt. Insofern besteht auch die Bemerkung Ivo Gurschlers zurecht, daß nämlich jene Modalitäten, sofern sie sich vom „Wesen“ entfernen, der Tendenz der modernen Wissenschaft entsprechen, sich vom Ursachen-Begriff zu lösen und die Gegenstände nach Gesichtspunkten, Korrelationen, Variablen zu konstituieren (allerdings andere Gegenstände als das Seiende als seiendes).

Walter Seitter


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Sitzung vom 12. Februar 2014

Donnerstag, 6. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004a 2 – 1004b 8)

Das Buch IV der Metaphysik hat eine „neue“ Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“ eingeführt. Nicht mehr die Suche nach den entfernten Ursachen der Seienden sondern die Betrachtung des Seienden als Seienden macht Aristoteles ihr nun zur Aufgabe. Das mag so aussehen, daß die Untersuchung nicht mehr in die Ferne schweifen soll, sondern beim „Selben“ bleiben und es sozusagen tautologisch, verdoppelnd affirmieren soll. Dieser Eindruck könnte auch dadurch erzeugt werden, daß sich Aristoteles damit zu begnügen scheint, den üblichen Sprachgebrauch, sei es den philosophischen sei es den umgangssprachlichen, herbeizurufen und zum Maßstab zu machen. So als hätte er den linguistic turn schon vorweggenommen (allerdings unbewußt – und das wäre dann kein philosophischer turn).

Die erste Aussage, die er nach der genannten Bestimmung macht, ist so eine sprachbeschreibende – allerdings keine, die irgendeinen Singular beschwört (wie das Heidegger mit dem Infinitiv „sein“ gemacht hat). Vom Seienden wird gesagt, daß es vielfältig ausgesagt wird. Welche Vielfalt ist damit gemeint? Etwa die Vielfalt der Welt, mit ihren vielen Gattungen und Arten etwa anorganischer und organischer Natur? Oder gar das Gewimmel der Individuen – sei es der Steine, der Gräser, der Insekten, der Bücher? Weder noch. Er führt eine etwas kleinere Vielfalt vor, er nennt zehn Begriffe, doch auf die Zahl 10 kommt es nicht an. Es kommt auf den Charakter dieser ca. 10 Begriffe an: es sind formale Bestimmungen oder Positionierungen, von denen ungefähr fünf aus der Kategorienliste genommen sind, welche ihrerseits zehn Kategorien umfaßt. Übrigens gilt von den Kategorien das oben Gesagte, daß es sich nämlich um Aussageweisen handelt: wir sind ganz nahe an der Logik, beinahe an der Linguistik. Anstatt des Wesens und der 9 Akzidenzien werden hier genannt: das Wesen und vier der Akzidenzien sowie fünf andere Bestimmungen, die mit den Akzidenzien verwandt zu sein scheinen. Doch setzen sie sich noch radikaler vom Wesen ab, ja sie gipfeln in der Negation des Wesens oder sonstiger Bestimmungen. Man könnte formelhaft sagen: die 10 Bestimmungen umfassen A und Non-A oder Anti-A sowie ungefähr 8 unterschiedliche Zwischenpositionen.

Anstatt das „Seiende als Seiendes“ identitär zu wiederholen und zu beschwören, tut diese Untersuchungsrichtung es zerlegen, pluralisieren, zu wechselnd-wiederholendem Einsatz zwingen, dramatisieren. Aber immer noch es selber als solches. Schon im ersten Satz hat Aristoteles diese Pluralisierung angekündigt: das Seiende und „ta touto hyparchonta“: die ihm zugrundeliegenden, innewohnenden Bestimmungen, und zwar notwendig innewohnenden, die bei ihm Unterschwellig-Herrschenden (1003a 23). Ich nenne sie – vorläufig – notwendige Seinsmodalitäten. Notwendig sind sie entweder schlechthin oder einfach oder aber alternativ. Zum Beispiel das Akzidens der Relation – enthalten in jener Aufzählung: wenn zu jedem Wesen – mindestens – eine Relation gehört, dann bleibt doch offen: Relation zu was. Die alternativ-notwendigen Bestimmungen sind „entscheidend“: sie zwingen zu „Entscheidungen“: Relation entweder zu K oder M oder N ..... In den Menschenfassungen habe ich von „Unbestimmtheit und Bestimmungszwang“ gesprochen. Es gibt also einen „Dezisionismus“ nicht nur bei bösen Theoretikern wie Schmitt und Heidegger sondern in der Ontologie selber: Dezisionistik. Übrigens ist in jener Aufzählung auch die steresis enthalten: Privation oder Unbestimmtheit oder Unfähigkeit oder Lücke oder Mangel – eine bestimmte Negation, die alle irdischen Dinge mitkonstituiert (mit Materie und Form).

Die Operation der Zerlegung oder Zergliederung, mit der Aristoteles die von mir „Ontologie“ genannte Untersuchungsrichtung der „gesuchten Wissenschaft“ charakterisiert (daneben gibt es auch die von mir „Metaphysik“ genannte Untersuchung der entfernten Ursachen), wird von Aristoteles auch auf anderen Ebenen durchgeführt. Unterscheidung der Arten, womit es für jede Art eine spezifische Wissenschaft gibt. Die Vielzahl der Wesen führt auch zu einer Gliederung innerhalb der Philosophie – und zwar Gliederung in Teile, die hierarchisch strukturiert ist: die erste Philosophie und dann eine folgende Philosophie .... Analog dazu die Einteilung der Mathematik, die auch Teile hat, und diesen Teilen entsprechen dann eine erste, zweite usw. Mathematik. Also eine Pluralisierung der Wissenschaften innerhalb der Mathematik.

Das Wort „Philosophie“ kommt hier nicht zum allerersten Mal vor, aber im Buch IV taucht es unvermittelt auf, als ob klar wäre, daß die „gesuchte Wissenschaft“ ohnehin bereits diesen bekannten Namen hat. Daß diese Nennung der Philosophie sofort mit dem Vergleichsbeispiel „Mathematik“ versehen wird, zeigt an, daß sich das aristotelische Philosophieren nicht selbstgenügsam-kontinental im Horizont der Philosophie abspielt, sondern im Horizont der Wissenschaften, den man „analytisch“ nennen kann.

Anschließend greift die Operation der Zergliederung sehr scharf in jedwede Wissenschaft ein, insofern sie einen Gegenstand mitsamt seinem Gegenteil zu behandeln hat – allerdings mit Fokussierung des jeweils gewählten Gegenstandes. Zergliederung, Polarisierung, Dramatisierung des jeweiligen Gegenstandsfeldes. Ohne diese Fokussierung würde jede Wissenschaft einfach „alles“ behandeln – folglich gäbe es nur eine Wissenschaft, nämlich die von „allem“.

Gibt es nicht doch eine Wissenschaft, die für sich das Privileg beansprucht, „alles“ behandeln zu können? Dieser Anspruch wird öfter der Philosophie unterschoben. Und tatsächlich kommt Aristoteles gleich auf den Philosophen zu sprechen und schiebt ihm eine riesig klingende Kompetenz zu: „der Philosoph muß über alle Dinge Betrachtungen anstellen können“ (1004b 1).

Das heißt jedoch nicht, daß er „alles betrachten“ muß. Sondern daß er etwas können muß, und zwar über jedweden Gegenstand eine Betrachtung anstellen. Und zwar was für eine Betrachtung? Er muß nicht die Wissenschaft von jedem Gegenstand machen oder sie auch nur machen können. Er muß „nur“ so winzige Fragen behandeln können wie „Ist ‚Sokrates’ und der ‚sitzende Sokrates’ dasselbe?“, „Gibt es zu einem immer ein Gegenteil?“ „Was ist ein Gegenteil?“ „Wievielfach wird es ausgesagt?“ (1004b 3f.) Es geht um eine Mikroskopie und zwar um eine bestimmte: man kann sie „formalistisch“ nennen oder „modalistisch“. Es geht um die notwendigen Modalitäten des Seienden als solchen, welche Modalitätenanalyse man allerdings auf jeden Gegenstand anwenden kann – ohne daß damit auch die Einzelwissenschaft von dem betreffenden Gegenstand gemacht würde. Analyse der Kategorien (Wesen, Akzidenzien und Superakzidenzien) an einem Gegenstand als einem Seienden als solchem: Erkennen des Was und der Akzidenzien von Seienden als seienden (1004b 7). Es scheint, daß ausgerechnet diese „Ontologie“ sich mehr für die Akzidenzien interessiert als die übrigen Wissenschaften; denn Aristoteles betont immer wieder, daß es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt, womit er die normalen Wissenschaften meint.

Walter Seitter


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Sitzung vom 6. Februar 2014

Montag, 3. Februar 2014

Metaphysik, Ontologie, ...


Betrachtet man noch einmal die Lektüren und Überlegungen der letzten Wochen, dann weisen sie in eine bestimmte Richtung, die nicht von vornherein zu erwarten war.

Die neue Definition der „gesuchten Wissenschaft“ im Buch IV scheint ihre Benennung als „Ontologie“ nahezulegen. Die ersten Ausführungen galten der multiplen Sagbarkeit des „Seienden“, die über das Wesen als das „eigentlich Seiende“ hinausgehend auch die Akzidenzien sowie einige noch einschneidendere Seinsmodalitäten betreffen. Aber dann wurden anscheinend reine Sprachgebräuche thematisiert und es drängte sich die Frage auf, ob nicht doch die Bezeichnung „Metaphysik“ geeigneter sei, der gesuchten Wissenschaft eine Sachhaltigkeit zu unterstellen (und zwar in der Richtung der ersten Ursachen, die wir lieber die letzten Ursachen nennen). Daher habe ich ein paar Sätze von Christos Giannaras herbeizitiert, der dem „Westen“ vorwirft, eine über die „Physik“ hinausgehende „Metaphysik“ aufgegeben zu haben – wobei man diese am ehesten mit göttlicher Realität assoziiert. Doch wenn er sich dann dem Osten zuwendet, der die „Metaphysik“ angeblich nicht aufgegeben hat, spricht er von „metaphysischer Suche“, die sich in bestimmten kulturellen Leistungen realisiere – und diese faßt er theoretisch mit dem Begriff tropos zusammen, der keine höhere Realität meint, sondern das Wie gegenüber dem Was betont. Das Wie erscheint als Zusammenfassung jener Seinsmodalitäten, von denen das Wesen auch eine ist – aber eben nur eine. Die Qualität des tropos scheint in der Gesamtheit der Modalitäten zu liegen, die sich gerade nicht auf eine von ihnen reduziert – auch nicht auf die „erste“.

In der Folge setzt Aristoteles seine Gliederungsaktion fort: er gliedert in Gattungen, Arten, Teile und es kommt offensichtlich darauf an, die Glieder zu unterscheiden aber auch zusammenzuhalten, denn nur zusammen bilden sie die Vielfachheit oder Mannigfaltigkeit, auf die es Aristoteles ankommt.

Und jetzt verbinde ich diese Gedanken mit einem neuen Lektüreergebnis. Im Jahre 1430 hielt der noch junge Kleriker Nikolaus von Kues vor dem Hof des Trierer Erzbischofs und Kurfürsten eine Weihnachtspredigt. In der er die Trinitätslehre philosophisch zu untermauern versuchte. Er sagte, daß Gott als Tätiger gedacht werden müsse und zwar als höchst vollkommener Tätiger. Da seien notwendigerweise drei Aspekte impliziert und die heißen generell agens, auf Neudeutsch Agent oder Subjekt, sodann das agibile also Objekt, und drittens die actio als Vollzug, die gehe aus den beiden erstgenannten hervor. Auf der höchsten Vollkommenheitsstufe, nämlich der göttlichen, müsse jeder Aspekt die höchste Realitätsstufe erhalten – die Person. Die drei Aspekte heißen also deificans, deificabile, deificatio – theologisch gesagt: Vater, Sohn, Geist.

Worauf es mir ankommt, ist die innere, formale Struktur dieser Trinitätskonzeption, die Nikolaus übrigens von Raimundus Lullus übernommen hat. Kurt Flasch, den ich hier referiere, betont, daß mit der Gleichberechtigung der drei Aspekte das Substanzkonzept dynamisiert ist, der Macher ist nicht mehr die herrschende Figur, das Machbare bzw. Gemachte ist ebenso wichtig wie das Machen selbst. Die Tätigkeit ist nicht mehr bloß ein Akzidens an der Substanz des Tätigen. Damit werde die „Ontologie des Aristoteles“ entscheidend kritisiert bzw. aufgegeben.[1]

Hier ist zurecht von „Ontologie“ die Rede. Denn das Problem liegt gar nicht darin, daß von Gott die Rede ist, sondern darin, daß das Verhältnis zwischen den Kategorien in Frage gestellt oder umgeworfen wird. Und diese Fragestellung hat Aristoteles selber in dem Satz über das Wesen, den Weg ins Wesen, die Beraubung, die Entstehung, den Untergang, die Verneinung aufgeworfen. Eine rücksichtslose Vervielfältigung der Modalitäten, die dem Wesen zwar seine Erstheit nicht bestreitet, ihr aber doch die Sicherheit und Ruhe stört. Und in der Poetik hat Aristoteles die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: die Götter wurden mit leichter Hand eliminiert und die Menschen mit einiger theoretischer Kraftanstrengung abgesetzt.

Ontologie als Aufstellung, Infragestellung oder Umstellung der Modalitätenordnung.

Walter Seitter






[1] Siehe Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung (Frankfurt 1998): 24ff.