τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 30. Januar 2014

In der Metaphysik lesen (1003b 34 – 1004a 2)

Im Protokoll vom 27. Jänner habe ich zunächst gemeint, daß die Ausführungen, die Aristoles bisher auf der „rein ontologischen Linie“ der gesuchten Wissenschaft (Wissenschaft vom Seienden als Seienden) gemacht hat, doch einen recht dünnen Eindruck machen, sodaß sich die Frage stellt, sie könnten auf bloße Tautologie hinauslaufen – sozusagen „Ontoontologie“, oder sie erschöpften sich in Analyse des Sprachgebrauchs.

Den Artikel von Christos Giannaris habe ich gebracht, weil er den Alternativbegriff „Metaphysik“ verwendet – und zwar in der eher populären Bedeutung, im Sinne eines Bezugs auf „höhere“ Realitäten, die zumeist mit „religiösen“ gleichgesetzt werden. Aber selbst diese Bedeutung erinnert an die in den Büchern I, II und III dominierende Bestimmung der gesuchten Wissenschaft: Suche nach ersten, herrschendsten, wissbarsten Ursachen, nach höchsten oder „letzten“ Ursachen – also irgendwie göttlichen. Bei genauerem Zusehen lassen sich in Giannaras Verwendung des Wortes doch einige feinere Nuancen erkennen. Was er „Metaphysik“ nennt, geht über die „Physik“ hinaus und die ist der Inbegriff des Materiellen (vor allem Ökonomischen) wie des Historischen. Aber dann unterscheidet er zwischen der religiösen Metaphysik des Westens, in der es um das Seelenheil des einzelnen Individuums ging, welche in der postmortalen Gemeinschaft mit Gott besteht, und einer „metaphysischen Suche“ (!), die sich in Politik (!), Kunst, Philosophie und Kirche(!) realisiert.

In der einen Auffassung stehen Mensch und Gott (zwei Substanzen) im Vordergrund, in der anderen hingegen ein tropos im prämortalen Leben aristotelisch gesprochen die Gesamtheit der Akzidenzien, daher auch die Formel von der „metaphysischen Suche“, die ja die Grundbestimmung unserer bisherigen Lektüre aufzugreifen scheint. In anderen Texten spricht Giannaras von der „Übung der Wahrheit“, was bestimmten Formulierungen des späten Foucault nahekommt.
Wir können daraus den Schluß ziehen, daß wir, selbst wenn sich der Ausdruck „Metaphysik“ als zutreffend erweisen sollte, die sozusagen existenzielle Grundbestimmung „gesuchte Wissenschaft“ nicht aus dem Auge verlieren sollten: die gesuchte Wissenschaft ist eine suchende.

Setzen wir also nun die – suchende – Lektüre fort. Aus der Selbigkeit von „seiend“ und „ein“ ergibt sich, daß die Arten des Seienden mt den Arten des Einen korrespondieren. Deren Was zu betrachten, sei Aufgabe einer der Gattung nach identischen Wissenschaft. Ist das nun eine Wissenschaft von der obersten Gattung, also vom Selben oder Ähnlichen – und somit vom Seienden oder Einen – oder sind das die Wissenschaften von den einzelnen Arten? Die einzelnen Arten verhalten sich zueinander wie Gegensätze – wie etwa die Gattung „Lebewesen“ sich in „Mensch“ und „Nicht-Mensch“ gliedert.

Walter Seitter


-
Sitzung vom 29. Jänner 2014

Dienstag, 28. Januar 2014

Finissage: Mobilität III – Geld

Zirkulationen zwischen Körper und Kapital – morgen in der Fotogalerie Wien!

MOBILITÄT III

Geld

von 17.12.2013 bis 29.01.2014

Lisl Ponger, Isa Rosenberger, Helmut und Johanna Kandl, G.R.A.M, Katharina Gruzei, Zanny Begg & Oliver Ressler , Chto Delat, Elke Uitentuis & Wouter Osterholt , Yorgos Zois

Finissage, Katalogpräsentation und Vortrag von
Elisabeth von Samsonow:
Leib – Werk – Schuld – Geld – Leib – Werk – Schuld – Geld …

Mittwoch, 29. Jänner 2014, 19.00 Uhr


IG

Montag, 27. Januar 2014

Metaphysik oder ......

Heute ist Mozarts Geburtstag, aber diese Glosse ist einem anderen wichtigen Thema gewidmet.

Wir haben darüber gesprochen, ob die „gesuchte Wissenschaft“ besser „Metaphysik“ oder „Ontologie“ genannt werden soll. Die in den Jänner-Sitzungen gelesenen Seiten schienen eher die Bezeichnung „Ontologie“ nahezulegen. Zuletzt aber konnte die Frage auftauchen, ob diese Ontologie nicht doch bloß in der Wiederholung selber Wörter, also in Tautologie, oder aber in Analyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs bestehe: Ordinary Language Philosophy.

In der griechischen Tageszeitung Kathimerini erschien gestern wieder ein Artikel von dem vielleicht bereits erwähnten Philosophen Christos Giannaras, der sich wieder einmal mit der griechischen Krise beschäftigt – dies aber aus einer bestimmten geopolitischen und geistespolitischen Perspektive. Ich zitiere einige Sätze aus dem Aufsatz, der den Titel trägt „Warum ein ‚Dänemark des Südens’ unrealisierbar ist“.

Das grundlegende Element des neueren westlichen Paradigmas ist sein kämpferisch „naturalistischer“ Charakter: die Notwendigkeit, daß sich die Menschen von dem Vorrang der Metaphysik in ihrem Leben befreien.

Der Mensch des Westens ist dadurch erwachsen geworden, daß ihm die Physik genügt; er braucht keine Metaphysik. Die Logik der Natur und die Fähigkeiten der Natur (vor allem die menschliche Erkenntnis) führen dazu, daß wir unsere Notwendigkeiten und Wünsche so organisieren, daß wir von apriorischen „Wahrheiten“ und Voreingenommenheiten frei sind. Die Praktiken des Lebens werden materialistisch; die Notwendigkeiten und Triebe folgen der Selbsterhaltung.

Die mittelalterliche Metaphysik des Westens war religiös – und gleichzeitig ums Individuum zentriert: sie beförderte den Ich-Trieb des „individuellen Heils“. Die Neuzeit lieferte diesem Heil ihr eigenes historisch-materialistisches Verständnis, behielt aber die individualistische Richtung bei. Die beiden historisch-materialistischen „Heils“-Praktiken, welche die Neuzeit ausbildete, waren die unbeschränkte Unternehmerfreiheit des Individuums oder aber die Sicherung des Individuums mithilfe einer zentralistischen Wirtschaftsorganisation: Kapitalismus, Sozialismus.

In Griechenland ist das neuzeitliche Paradigma eklatant gescheitert, denn wir haben es nicht um unserer pragmatischen Notwendigkeiten willen gewählt, sondern einfach aus Wichtigtuerei wollten „wir auch Europäer werden“. Diese Wahl war das Ergebnis des sogenannten Neohellenismus, der uns suggeriert hat, wir müßten an der Dynamik der Geschichte teilhaben.

Unsere Situation war jedoch grundlegend anders als im Westen: wir kannten kein Mittelalter; als die barbarischen Völker die römische Herrschaft auflösten und den Westen in den Primitivismus stürzten, fand sich die griechisch-römische „Ökumene“ auf dem Gipfel ihrer kulturellen Errungenschaften. Die metaphysische Suche (Forschung) führte zu hervorragenden Ergebnissen in Politik, Kunst, Philosophie. Die „Volkskirche“, die „Kirche der Gläubigen“ gab das Griechentum nicht auf zugunsten einer individualistischen „Religion“. Deshalb hat das „Schisma“ die griechische Welt kaiser(schnitt)lich vom barbarischen Westen getrennt.

All dies ist vergessen. Wir nennen uns zwar noch Griechen, haben jedoch den griechischen tropos (modus vivendi, modus operandi ....) aufgegeben, um eine „Kultur“ nachzuäffen, die unseren Notwendigkeiten nicht entspricht. Wir bringen nicht einmal ein bißchen protestantische Ethik auf, um den Primitivismus unserer gegenwärtigen Anführer zu zähmen ...
 
Walter Seitter
  


Donnerstag, 23. Januar 2014

In der Metaphysik lesen (1003b 23 – 1003b 33)

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Franco Moretti hat der Methode des close reading (wort-wörtliches Lesen) eine sogenanntes distant reading entgegengesetzt, das dazu befähigen soll, „über Bücher zu reden, ohne sie gelesen zu haben“. Unsere Poetik-Lektüre versuchte sich in der erstgenannten Richtung. Unser Lesen „In der Metaphysik“ unterscheidet sich nicht nur dadurch, daß wir Sekundärliteratur nicht heranziehen, sondern womöglich auch dadurch, daß wir das Lesen durch ein „Sehen“ ergänzen wollen, das im Text eine Aktion sieht, in der verschiedene Vorgangsweisen auffallen und benannt werden können. Nicht Nicht-Lesen, sondern Lesen und Sehen. Schauen, was in diesem Text gemacht wird, um was für ein Unternehmen es sich handelt: Unternehmensanalyse, Betriebsspionage (BWL).

Zuletzt lasen wir den erstaunlichen Satz, daß jeder Gattung (von Seienden) eine bestimmte Wissenschaft zugeordnet ist und jeder Wissenschaft eine Sinneswahrnehmung (1003b 20). Und als Beispiel nannte Aristoteles die Grammatik mit den Lauten als sinnlichem Gegenstand. Zunächst dürfen wir darüber erstaunen, daß er der Grammatik als Schreibkunde (Wie schreibt man richtig?), also der Sichtbarmachung von Sprache die Laute zuordnet, die ja akustisch wahrgenommen werden. Schrift und Sprache werden da irgendwie identifiziert. Sodann können wir fragen, ob er mit den Lauten nur die Einzellaute meint oder auch die Zusammensetzungen, die Lautfolgen wie Wörter, Sätze. Wir dürfen letzteres annehmen, weil damit die Verbindung zum heutigen Sinn von „Grammatik“ möglich wird.

Aus der allgemeinen Aussage über Gegenstand, Wissenschaft, Sinneswahrnehmung scheint indessen die Schlußfolgerung möglich, daß auch der Ontologie als Wissenschaft vom Seienden als Seienden eine bestimmte Sinneswahrnehmung zugeordnet sein müßte. Welche mag das sein? Das Denken? Ist das Denken eine Sinneswahrnehmung? Am ehesten fällt einem die alte griechische Vorliebe fürs Sehen ein, die anscheinend auch bei der Erfindung der Philosophie (einer ausgezeichneten Form von „Denken“) mitgewirkt hat, als sie mit der „Theorie“ gleichgesetzt worden ist und als ihre vornehmsten Gegenstände die „Ideen“ („Sichten“) aufgestellt worden sind. Sollen wir also die der Ontologie entsprechende sinnliche Wahrnehmung in einer Art von Sehen suchen, in einem platonischen Mehr-Sehen? Dagegen spricht immerhin, daß Aristoteles bei der als Beispiel eingeführten Grammatik auf die hörbaren Laute setzt. Können wir das Denken selber als „Wahrnehmen“ betrachten? Wir kommen auf Bestimmungen des Denkens als Erstaunen, Zweifeln – das sind gewissermaßen Selbstempfindungen. Denken als Fragen, als Selbstgespräch – wir kommen in die Nähe des Sprechens. Ist Sprechen eine Wahrnehmung? Eher eine Wahrgebung. Andere Wahrgebungen: singen, zeigen, zeichnen, malen, schreiben, musizieren, publizieren (aus dem Publizistik-Seminar ging seinerzeit das Klossowski-Seminar hervor). Das griechische Wort, das häufig mit „denken“ wiedergegeben wird, heißt noein – und das heißt eigentlich so etwas wie wahrnehmen (laut Motto der Hermesgruppe); denn es hängt etymologisch mit Nase, folglich semantisch mit riechen, spüren zusammen.

Wir verschieben die Frage auf diejenige, ob es bei Jacques Derrida oder Michel Foucault so etwas wie eine „Ontologie der Sprache“ gibt: also eine Regionalontologie zur Einzelwissenschaft der Grammatik (Linguistik).
Aristoteles scheint nun so in die Ontologie einzusteigen, daß er behauptet die Bestimmungen „seiend“ und „ein“ seien zwar begrifflich unterschieden, der Sache nach aber ein und dieselbe – allerdings nicht nur diese beiden sondern auch das Fehlen solcher Bestimmungen sei der Sache nach eine selbe Bestimmung (!). Das heißt nicht, daß „seiend“ dasselbe ist wie „nicht-seiend“ oder „ein“ dasselbe wie „kein“ – sie bedeuten nur dasselbe wie          . Dies aber auch nur in ganz bestimmten Kontexten wie demjenigen, den er mit „Mensch“  konstruiert. 

Walter Seitter


Sitzung vom 22. Jänner 2014

Freitag, 17. Januar 2014

In der Metaphysik lesen (1003b 11 – 23)

Wir kommen auf das Sammelsurium von Bestimmungen zurück, denen Aristoteles das Prädikat „seiend“ zuspricht: nämlich dem Wesen oder der Substanz und dann einigen Akzidenzien (aus der Kategorientafel) sowie einigen „Superakzidenzien“ wie Entstehung, Vernichtung, Verneinung. Worauf laufen diese Bestimmungen hinaus? Sie bilden einen Gegensatz, ja eine Gegenfront zum Wesen und im Unterschied zu den Akzidenzien ordnen sie sich ihm keineswegs unter sondern stehen ihm gleichrangig gegenüber, da sie ja sogar über es verfügen – so die Entstehung und die Vernichtung. Wir können diese Gegenfront als Wechselfälle, als Schicksal, als Dramatik bezeichnen oder mit dem neuphilosophisch-pathetischen Singular „Ereignis“. Zwar würde Aristoteles auf die Frage, vom wem die Erzeugung oder die Vernichtung eines Wesens ausgeht, wieder auf ein Wesen verweisen: entweder auf dasselbe oder auf ein anderes. Damit wären wir bei der Tatsache „Leben“ oder in der Situation „Krieg“. Das heißt nicht, daß Aristoteles den Vorrang des Wesens aufgibt, aber er faßt ihn so weit, daß auch das Gegenteil der Fall sein kann: das Wesen ist etwas so Großzügiges, daß auch der „Fall“ vorkommen kann und unter es fällt.

Die Spannweite dieses Spektrums wird aufgemacht, um die Flexibilität des Begriffes „seiend“ zu verdeutlichen und die Möglichkeit, daß eine einzige Wissenschaft diese ganze Spannweite behandelt. Das geht also in die Richtung einer „Einheitswissenschaft“, die unterschiedliche Phänomene behandelt. Aber keineswegs „alle“ Phänomene: denn für die Phänomene (und Erzeugungen und Vernichtungen) der Gesundheit ist wiederum eine andere Wissenschaft zuständig (die indessen anders konzipiert ist als die moderne Medizin, welche sich um die Krankheit dreht).

Sodann führt Aristoteles die Spezifizität einer jeden Wissenschaft auf eine spezifische Sinneswahrnehmung zurück, womit er die epistemologische Stufung vom Anfang des I. Buches aufgreift und nun sogar in die Konzipierung der „gesuchten Wissenschaft“ einbezieht. Eine empiristische oder sensualistische oder positivistische Volte? Die sinnlichen Basisdaten der Grammatik, das sind alle Laute. Welche sind die sinnlichen Basisdaten der Gesundheitswissenschaft? Die gesuchte Wissenschaft ist gattungsmäßig eine: sie teilt sich aber in Wissenschaftsarten, welche die Arten der Seienden (als solcher) zu untersuchen hat. Diese Wissenschaft scheint sich also logisch in gattungsmäßig Einheitswissenschaft und spezielle Wissenschaftsarten zu gliedern. Ist ihre Einheitlichkeit schwächer als die der Grammatik oder der Gesundheitswissenschaft? Außerdem läßt sich die Frage stellen, wo denn die sinnliche Basis dieser Wissenschaft bzw. dieses Wissenschaftskomplexes liegt. Wo ist das Seiende (als solches!) sichtbar, hörbar usw.? Wie die verschiedenen Arten dieses Seienden? Sind die Arten die oben genannten Akzidenzien bzw. Superakzidenzien?

Walter Seiter

-
Sitzung vom 15. Jänner 2014

Freitag, 10. Januar 2014

In der Metaphysik lesen (1003a 21 – 1003b 10)

Beim Einstieg in ein neues „Buch“ der sogenannten Metaphysik merkt man, daß es sich um eine lose gefügte Textfolge handelt, die zwar ein Thema verfolgt – die Suche nach einer irgendwie neuen, jedenfalls noch nicht durchformulierten, geschweige denn abgeschlossenen Wissenschaft, welche die Existenz verschiedener bereits etablierter Wissenschaften (mitsamt einer bestimmten Wissenschaftsklassifikation) voraussetzt. Suche nach einer zusätzlichen Wissenschaft, welche die Ursachenforschung weitertreibt als dies die schon bekannten Wissenschaften tun. Sucht sie nach zusätzlichen Ursachen oder nach noch ursächlicheren? Geht es um „Ur-Sachen“ in einem pointierten Sinn oder um Zusätze, Zugaben, „Zu-Sachen“?

Es scheint sich um eine groß angelegte Suchbewegung zu handeln, die in mehreren unterschiedlichen Anläufen vorangetrieben wird: mehrfache Definition der „gesuchten Wissenschaft“, Auflistung und Kritik bisheriger Vorläufer, Aufstellung und Behandlung bisher bekannter Aporien. Das IV. Buch setzt bereits in seinem ersten Satz mit einem doppelten Paukenschlag ein: es wird die Existenz einer solchen Wissenschaft schlicht und einfach behauptet und sie erhält ihre neueste, man könnte sagen ihre „aristotelischste“ Definition: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als seiendes betrachtet ...“ Materialobjekt der Wissenschaft ist also das Seiende und gleichzeitig ist „seiend“ das Formalobjekt: Insistieren auf der Seiendheit, Insistenz der Seiendheit. Verdoppelung des Seienden durch Zwischenschaltung des Bindewortes „als“, das eine stärkere Identität suggeriert als etwa ein „und“. Es kommt aber auch eine Und-Hinzufügung, die allerdings die erste Verdoppelung wiederholt oder noch einmal verdoppelt: und das ihm Zukommende, das ihm „archisch“ also zuvörderst Zugrundeliegende, und zwar ihm selber, ihm „an sich“ bzw. heideggerisch übersetzt ihm „an ihm selber“. Diese Und-Hinzufügung sagt mit anderen Worten dasselbe wie das „als seiendes“ – und doch kommt eine neue Nuance dazu: eine Pluralisierung, die dem griechischen Sprachgebrauch naheliegt, der etwa „alles“ in der Regel mit dem Plural ausdrückt: panta. Wir werden aber gleich sehen, daß diese supplementäre Pluralisierung von Aristoteles explizit zu einer eigenen Aussage auseinandergefaltet wird.

Schon im zweiten Satz wird die eben definierte Wissenschaft von den „Teilwissenschaften“ unterschieden, welche das Seiende unter einem anderen, unter einem begrenzenden Als-Gesichtspunkt beschneiden und betrachten, unter dem Aspekt eines Akzidens, wie etwa die mathematischen Wissenschaften, die im Text schon öfter erwähnt worden sind, weil sie bereits bekannt sind (997b). Dann aber kommt Aristoteles auf seine schon oft formulierte Gegenstandsbestimmung der gesuchten Wissenschaft zurück: es gilt „die Prinzipien und höchsten Ursachen“ aufzusuchen – aber von was, eben von dem Seienden und zwar von dem Seienden an sich. Wie das ja bereits diejenigen versucht haben, die die Elemente von dem Seienden gesucht haben. So verbindet Aristoles die ältere und die neuere Definition der gesuchten Wissenschaft und bezieht sich auch auf die Vorläufer in diesem Geschäft (auf die er ja im I. und im III. Buch schon eingegangen war).

Dann aber folgt ein Satz, der mehr ist als eine Definition, nämlich ein Lehrsatz, obgleich er eigentlich nur den herrschenden Sprachgebrauch beschreibt und festschreibt: das Seiende wird vielfach, differenziell, plural ausgesagt, aber nicht schlechterdings vieldeutig (wie etwa das Wort „Hahn“ einen männlichen Vogel und ein Wasserleitungsstück bezeichnet) sondern so, daß die verschiedenen Bedeutungsnuancen alle auf die eine Grundbestimmung verweisen: die Seiendheit. Als analoge Beispiele nennt Aristoteles die beiden Eigenschaftswörter „gesund“ und „ärztlich“ – die allerdings den Nachteil (oder auch den Vorteil) aufweisen, daß sie auch zueinander das semantische Naheverhältnis haben, welches die verschiedenen Verwendungen sowohl von „gesund“ wie auch von „ärztlich“ zusammenhält. Beide Adjektive lassen sich jeweils auf Eigenschaften, Fähigkeiten, Erzeugung, Praxis, Anzeichen, Theorie anwenden – also auf unterschiedliche Positionierungen in einem semantischen Feld. 

Beim sehr allgemeinen Prädikat „seiend“ hat die Vervielfältgung, um die es Aristoteles geht, einen anderen Charakter. Es gibt da kein bestimmtes semantisches Feld, sondern die reine Differenzierung von Positionen: im Sprachgebrauch oder eben in der Welt. An der Spitze dieses Positionenfeldes steht die ousia – Seiendheit, Wesenheit, Wesen, Substanz. In erster Linie wird on von den ousiai ausgesagt: eine tautologische Selbstverständlichkeit. Das Interessante, das Großzügige an der aristotelischen These besteht nun daran, daß auch andere Bestimmungen mit dem Prädikat „seiend“ ausgezeichnet werden – sofern sie mit dem Prinzip ousia zusammenhängen. Es gibt also Zusammenhang, Prinzip, Abhängigkeit: Hierarchie. Welche Bestimmungen außer den ousiai sind das? Die pathe – also die Erleidungen, die passiven Bestimmungen eines Wesens. Was genau der akzidenziellen Kategorie paschein entspricht. Oder Bestimmungen, welche ein „Weg in die Seiendheit“ sind (1003b 7), ein Weg in die Wesenheit, ein Weg ins Wesen. Dafür läßt sich nun kaum eine der bekannten Kategorien namhaft machen, so empfiehlt es sich weiterzuschauen: Aristoteles nennt nun Vergehen (Zerstörung), Beraubung (Mangel), erst danach Qualität, die nun tatsächlich eine Kategorie ist. Vergehen und Beraubung sind wichtige Begriffe der aristotelischen Physik, aber sie fallen nicht unter die Kategorien. Vielleicht steht das Vergehen, die Vernichtung dem „Weg“ am nächsten, nämlich als Gegenpol. Dann handelt es sich nicht um zwei Weiterbestimmungen an etwas schon Bestehendem sondern um Momente oder Prozesse, in denen die Existenz der ousia auf dem Spiel steht. Also um „Akzidenzien“, die „vor“ den bekannten neun Akzidenzien positioniert sind; genau genommen sogar den ousiai vorgeschaltet sind, zumindest was deren Existenz betrifft – also den ousiai als „ersten Substanzen“. Die ersten fünf von Aristoteles genannten Nicht-ousiai, von welchen das on ausgesagt werden, bilden also bereits eine recht unordentliche Gesellschaft aus normalen Akzidenzien und anderen Hauptbegriffen der Physik, die eine größere Tragweite haben. Dazu kommt, daß der „Weg ins Wesen“, den ich jetzt als Entstehung (genesis) gedeutet habe, ein äußerst ungewöhnlicher Ausdruck, sozusagen eine topische Metapher zu sein scheint.

Eine Metapher, die sich sogar auf einer anderen Ebene als metaphorischer Titel der ganzen Suchbewegung namens Metaphysik eignen würde:

WEG INS WESEN

Was ziemlich heideggerisch klingt, doch wörtlich aristotelisch ist. Wenn die Weg-Metapher – auf dieser Ebene – erst zu Beginn des IV. Buches auftaucht, muß man sie nicht so verstehen, daß der Weg etwa erst hier begänne. Die negative Version der Weg-Metapher hat übrigens explizit das ganze III. , das Aporien-Buch ausgefüllt: Ab-Wege, Un-Wege, Irr-Wege, Sackgassen – aber mit der Möglichkeit von Auswegen (wenn man sich anstrengt). Der Weg hat schon mit dem ersten Buch begonnen. In Wirklichkeit sogar schon vorher: mit allen „normalen“ Büchern des Aristoteles und laut Aristoteles natürlich schon weit vorher.

Die Rolle, die der Ausdruck „Weg ins Wesen“ im Text selber spielt, liegt darin, daß die – möglicherweise langsame – Entstehung irgendeines Wesens selber auch schon „seiend“ genannt werden kann, sozusagen im Vorgriff auf das Entstehende. Dieser Weg ist also kein Akzidens im üblichen Sinn, sondern ein Prä- oder Antezidens: ein Vor-Gang im Sinne eines Vorspiels, einer Vorbereitung.

Die nächsten Nicht-Wesen, die auch „seiend“ genannt werden können, gehen inhaltlich in dieselbe Richtung: es sind Herstellungs- oder Entstehungsmomente des Wesens. Wobei die Herstellungsmomente mit ihrer Benennung als poietika an die Kategorie poiein denken lassen (das Gegenstück zur Kategorie paschein): ob diese Kategorie eine Herstellungstätigkeit meint, die vom Wesen ausgeht, oder eine, die zum Wesen führt (wie der Weg), sei dahingestellt. Sodann Bestimmungen, die sich auf die Wesenheit beziehen (Akzidens der Relation) und schließlich sogar Verneinungen der Wesenheit sowie der bisher genannten Bestimmungen: denn auch zum Nicht-Seienden sagen wir: es sei nicht-seiend. Hier wird also die bloße Kopula-Funktion des Verbs „Sein“ herangezogen, damit auch alle möglichen Nichtse sein können – nämlich Nichtse.

Diese - im Mittelalter so genannte - Analogia entis impliziert einen Begriff von „Seiendem“ oder „Sein“, der weder äquivok (völlig vieldeutig) noch univok (schlicht eindeutig) sondern dermaßen flexibel ist, daß er nicht nur die Akzidenzien sondern auch die Entstehung, die Vernichtung und das Nichts zusammenhält - aber sehr lose zusammenhält. Zusammenhaltung und Auseinanderhaltung allergrößter positioneller Differenzen: das will Aristoteles mit dieser These verbinden.

Er ist schon in 992b (welche Textpassage wir im April 2012 gelesen oder vielmehr überlesen haben), auf sie zu sprechen gekommen und hat dort die Auseinanderhaltung so stark betont, daß er behauptet hat,  es sei nicht möglich, die Elemente aller Seienden aufzusuchen und aufzufinden (992b 24). Ein Satz, der uns in diesem Buch, in der Metaphysik, sehr erstaunen muß. Halten wir uns vorläufig an einen weniger schroff klingenden Satz: „Und es gibt auch nicht (bloß) eine einzige Wissenschaft vom Seienden ....“ (Eud. Eth. 1217b 35)


Walter Seitter

-
Sitzung vom 8. Jänner 2014