τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 7. Juli 2013

Notizen aus Stuttgart und Marbach


Mittwoch, 3. Juli, Flug nach Stuttgart. Später Vormittag im Grand Café Planie, im Alten Waisenhaus (18. Jahrhundert) an einer breiten Straße, die den stuttgartisch-französischen Namen „Planie“ trägt. Im Inneren eine Kopie des Großstadt-Triptychons von Otto Dix (1928).

Am Abend im Literaturhaus Vorstellung von Francis Ponge Der Tisch (Klagenfurt 2011) unter dem Titel „Francis Ponge und die Dinge“. Lesung aus dem Buch, Diskussion mit Jean-Pierre Dubost und Joachim Kalka. Ponges Dichtung gewinnt ihr Profil daraus, daß er ihr Erkenntnisleistungen abverlangt, die in die Richtung der Naturwissenschaften gehen. Das Ergebnis ist eine Poetische Physik, die Verwandtschaften mit der Philosophischen Physik aufweist. Mit seiner Nähe zur Prosa verzichtet Ponge auf den Gestus des genialen Dichters und bewegt sich ausdrücklich in der Rhetorik als der Lehre vom Sich-Ausdrücken, womit er den jungen Leuten Mut machen will, ihre eigene Rhetorik zu finden, das heißt eine Tätigkeit, die sie vielleicht „retten“ könnte: vor dem Selbstmord, vor der Arbeitslosigkeit (die meines Erachtens geradezu gefördert wird durch das Bemühen der österreichischen Nachrichtensprecher, das Wort „job“ geradezu attraktiv zu machen, indem man es gekonnt (sei es britisch, sei es amerikanisch) auszusprechen. Jungen Leute, denen nichts anderes einfällt, als auf einen „job“ zu warten, zu hoffen, ist wohl kaum mehr zu helfen. Francis Ponge hat diese Probleme bereits im Jahr 1930 artikuliert – eben weil er kein genialer Dichter war (Cézanne war kein genialer Maler)).

Donnerstag, 4. Juli. Fahrt nach Marbach. Kleine malerische Stadt am Steilhang, mit Schillers Geburtshaus. Und darüber die Schillerhöhe: seit dem 19. Jahrhundert Schiller-Nationalmuseum, seit einigen Jahrzehnten Deutsches Literaturarchiv, seit einigen Jahren Deutsches Literaturmuseum. Darin derzeit eine Zettelkasten-Ausstellung, in der einige „Zettelkasten-Imperien“ von Dichtern wie auch von Wissenschaftlern andeutungsweise gezeigt werden. Eine handwerkliche Technik, die aus dem Bibliotheksbetrieb, vielleicht aus dem Büro überhaupt, stammt und seit dem 19. Jahrhundert von Schriftstellern aller Art auf je persönliche Weise und offensichtlich erfolgreich kultiviert wurde.

Tagung „Carl Schmitt und die Literatur seiner Zeit“. Helmut Lethen spricht über „Carl Schmitts Tagebücher als Quelle der Werkdeutung“. Referiert und zitiert aus Tagebüchern der Zehner-, Zwanziger-, Dreißigerjahre, in denen Carl Schmitt tagtäglich, rückhaltlos die Hektik seines Lebens, mehr des „privaten“ als des beruflichen, mit allen Eskapaden, Erschütterungen, sei es erotischer, sei es religiöser Art, in gedrängten Sätzen, Halbsätzen, in Gabelsberger Kurzschrift, festhält. Zu den Fakten gehören auch Stimmungen bzw. Reflexionen darüber, etwa: „Es ist eine objektlose Sehnsucht deren Grund Objektlosigkeit ist.“ Lethen dazu: er habe einen jungen Wiener Lacanianer gefragt, ob das ein Satz sei, der zu Lacan passe. Antwort: ja. Lethen fragt sich, ob es sich bei diesem Carl Schmitt nur um das Syndrom der „Nervosität“ handle, die damals in Mode war. Er meint: nein. Und skizziert andere Erklärungsmodelle. Darunter auch dasjenige, das er meinen Menschenfassungen entnimmt, aus denen er einige Sätze herbeizitiert (173ff.): essenzieller Akzidenzialismus, zu dessen Konstruktion mich seinerzeit auch die Lacan-Lektüre angeregt hat. In der Diskussion weise ich darauf hin, daß ich 1981 diese Schrift Carl Schmitt zugeschickt habe, der mir drei Tage später antwortete, auch mit dem Satz „leider kenne ich Lacan noch nicht ...“;  diesen Satz bezeichne ich als meinen Beitrag zur deutschsprachigen Lacan-Rezeption.

Am Abend sagt mir Martin Mosebach, er habe für das Motto in der Todesanzeige Henning Ritter die Sätze aus dessen Notizheften ausgewählt, in denen dieser vorsichtig aber doch als Gläubiger spricht.

Freitag, 4. Juli. In der Nacht auf der Schillerhöhe in einigen schlaflosen Viertelstunden Gedanken zum Komplex Kosmogonie-Kosmologie-Theologie: diesen Komplex umgreift und gliedert das Gesamtspektrum zwischen extremer Entropie und extremer Neg-Entropie.

Marbach weist noch ein drittes „Zentrum“ auf: unterhalb der Altstadt, außerhalb der Stadtmauer, in einer Talenge, steht eine große spätgotische Kirche; außen ist sie nur groß, innen ein sehr schönes, auch farbiges, Netzgewölbe. Im späten 15. Jahrhundert erbaut hält sie an der frühmittelalterlichen Lage der Stadt fest. Alexanderkirche.


Walter Seitter