τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 29. Juni 2013

In der Metaphysik lesen (1000a 24 – 32)


Auf die letzte Bemerkung zu Aristoteles zurückkommend stellen wir die Frage, wo denn bei ihm die Grenze zwischen Wissenschaft im Sinne von Einzelwissenschaft und Philosophie zu finden sein könnte – und zwar im Sinn der modernen Wortbedeutungen. Es darf vorausgesetzt werden, daß bei Aristoteles – wie bei uns - der Begriff der Wissenschaft eine größere Bedeutung hat als der der Philosophie, jedenfalls im quantitativen Sinn. Alles, was er selber macht, ist Wissenschaft, ist einer bestimmten Wissenschaft zuzuordnen. „Wissenschaft“ ist ein eher technischer Begriff. „Philosophie“ meint wie schon vor Aristoteles eine sehr qualifizierte Seelenhaltung und Seelenleistung, die zu Wissenschaft befähigt. Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten bestimmte Wissenschaften den Ehrentitel „Philosophie“. So wird die Physik auch „Zweite Philosophie von den beweglichen Gegenständen“ genannt (Met. VII 1037a 14ff.), Ethik und Politik werden einmal als die „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ zusammengefaßt (Nik. Eth. X 1181b 15). Beide Male fallen also Wissenschaft und Philosophie zusammen, also würde es sich beide Male um „empirische Philosophie“ handeln.

Nehmen wir als konkretes Beispiel die Poetik und stellen die Frage, ob sich an ihr bzw. in ihr die Unterscheidung von Literaturwissenschaft und Literaturphilosophie doch durchführen ließe. Eine Frage, die jetzt dadurch nahegelegt wird, daß Friedrich Kittlers Philosophien der Literatur erschienen sind (Berlin 2013) und ihr erster Abschnitt der aristotelischen Poetik gewidmet ist. Kittler subsumiert das Buch einfachhin unter Philosophie und indem er das Werk nicht auseinanderdividiert, tut er ihm natürlich nicht Unrecht. Er analysiert hauptsächlich die direkte mediale Umwelt derjenigen Dichtung, die Aristoteles zum Gegenstand macht – also die Sprech- und Musikarten zwischen denen, in denen die Tragödie sich realisiert hat. An mindestens einem Punkt wird aber auffällig, daß Kittler gut daran getan hätte, den aristotelischen Text nach literatur-, besser gesagt nach dichtungswissenschaftlichen Kategorien zu befragen: dann hätte er kaum den aristotelischen Terminus mythos mit den griechischen Mythen verwechselt (die Aristoteles dem Tragödiendichter als Vorlage empfiehlt – aber nicht unter dieser Benennung).

Auf zwei Punkte sei hingewiesen, wo die Poetik deutlich die Ebene von Literaturwissenschaft übersteigt – beide Male, indem sie die Ursachenerkundung darüberhinaustreibt.

Dichtung ist Nachahmung – und was ist die Ursache für diese Tätigkeit? Daß der Mensch „das nachahmendste von allen Tieren“ ist (Poetik 1448b 7): damit erfindet Aristoteles hier eine dritte Definition des Menschen (nach „Tier mit Logos“, „Tier in Polis“). Also ein Beitrag zur Philosophischen Anthropologie. Und zum anderen die Stelle, wonach die Tragödie irgendwann – nach ihren doch eher primitiven Anfängen und einigen Phasen von Verbesserung - ihre „Natur“ erreicht habe (1449a 15). So wird der Tragödie ein Wesen zugeschrieben – auch das eine Ursachensorte bei Aristoteles. Aber anstatt des neutralen Wesensbegriffes ousia (der an anderer Stelle verwendet wird) wird hier gerade dasjenige Synonym (siehe 18. April 2013) eingesetzt, das für das Artefakt Tragödie am wenigsten geeignet erscheint: physis (Natur). Indem Aristoteles so mit seiner ontologischen Terminologie „spielt“, ordnet er seine Dichtungswissenschaft in eine Ontologie ein, die im engeren Sinn „philosophisch“ genannt werden kann.

In unserem Text referiert dann Aristoteles den vorsokratischen Philosophen Empedokles mit folgender Kausalitätsordung:

Gott = Eines = Freundschaft

Streit

Bäume, Tiere, Menschen, Götter

In der ersten Zeile steht die erste (fernste) Ursache, in der zweiten die mittlere, in der dritten stehen die Wirkungen, die ihrerseits auch jeweils die letzten (nächsten) Ursachen (für ihre Nachkommen) sind.

Walter Seitter


 


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