τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Montag, 24. Juni 2013

Die Banalität der Weisheit

DER STANDARD brachte gestern ein Interview mit dem Aristoteles-Forscher Hellmut Flashar, das den Titel „Staunen über Aristoteles“ trägt.

Hier einige Anmerkungen, sozusagen ein Zwischenbericht, nach sechseinhalb Jahren Aristoteles-Lektüre, unter dem scheinbar entgegengesetzten Titel „Die Banalität der Weisheit“.

Das Erstaunliche an Aristoteles scheint mir das zu sein, daß er erstaunlich ist, obwohl er von allen berühmten Philosophen so ungefähr der gewöhnlichste, ja banalste ist. Nichts von dem Geheimnisvoll-Dunkeln der Vorsokratiker, nichts von dem gelegentlichen Enthusiasmus Platons, nichts von der Endlos-Dichtung des Lukretius, wenig von den fast ebenso endlosen Verstiegenheiten Kants, nichts von dem verführerischen Schwung der hegelschen Dialektik, nichts von den noch verführerischeren Aphorismen Nietzsches, nichts von den hartnäckig-hinterhältigen Holzwegen Heideggers.

Höchstens von allen diesen Qualitäten ganz selten eine kleine Anwandlung – hineingestreut in eine graue Prosa, die klar sein will, oft auch ist, fast immer die „Sache selbst“ zur Sprache bringen will, manchmal aber doch sich in ihrer Eigenheit reflektiert oder verhaspelt, manchmal mit Lakonie Eleganz erzeugt oder auch Fragen offen läßt. Manchmal sich in Polemiken verstrickt und wiederholt.

Graue, sachliche, fast immer nachvollziehbare (wenn auch nicht immer zustimmungsfähige) Prosa. Philosophie? Hellmuth Flashar macht die wohl doch erstaunliche Aussage, Aristoteles habe alle Wissenschaftsgebiete durch eigene Forschung bereichert – außer Medizin und Botanik. Damit muß er implizieren, er habe auch zur Mathematik beigetragen (was die Forschung tatsächlich schon vor über 100 Jahren aufgewiesen hat) (während ihm heute von einigen sogar der mathematische Sachverstand abgesprochen wird). Allerdings darf man die Frage stellen, ob denn das Philosophie sei: alle Wissenchaften machen.

In dem Buch, das wir jetzt lesen, in der Metaphysik, geht es anscheinend um eine „extra“ gesuchte, um eine zusätzliche Wissenschaft. Für die sucht er auch einen Namen und im ersten Buch nennt er sie – vorläufig – mit dem althergebrachten und altehrwürdigen Namen „Weisheit“. Zur Definierung der Weisheit setzt er als Kriterien die Qualitäten wissend, genau, lehrend, wißbar, ursächlich, allgemein ein: je mehr eine Wissenschaft von diesen Kriterien verwirklicht, je höher das Maß ist, in dem sie das tut, je mehr sie sich dem Superlativischen dieser Qualitäten nähert, umso mehr kann sie auf den Titel „Weisheit“ Anspruch erheben. Für die Superlative selbst setzt er dann die Qualität „göttlich“ ein und die höchste Wissenschaft ist dann die göttliche vom Göttlichen.

Aber sie ist nur die oberste Spitze einer riesigen Pyramide, die viele Grade von Genauigkeit, Lehrendheit, Ursächlichkeit, Allgemeinheit kennt. Die Basis der Pyramide ist die Wissenschaft von allen Dingen – wohlgemerkt in ihrer Allgemeinheit.

Die Wissenschaft von allen Dingen die gab es zu Aristoteles’ Zeiten in zwei Stufen: zuvörderst als Nebeneinander einzelner Forschungen, wobei etwa Mathematik, Medizin und Geschichtsschreibung zu seiner Zeit schon längst entwickelt waren und wobei er als Forscher ebenfalls mannigfaltige Beiträge lieferte. Das ist das Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander der Wissenschaften – bis heute.

Die Wissenschaft von allen Dingen, die gibt es aber auch als Philosophie oder als unterste Stufe der Weisheit. Das heißt es gibt sie doppelt – wenn die Philosophie sich dazu herabläßt, sich auch für die gewöhnlichen Dinge zu interessieren und wenn sie das ohne sachfremden Hochmut tut. Aristoteles bewegt sich in diesem Zwischenraum – den es bis heute gibt, aber nur wenn man ihn erschafft. Im 20. Jahrhundert haben das laut Alain Badiou die sogenannten Epistemologen getan oder zumindest ermöglicht: Jean Cavaillès, Alexandre Koyré, Gaston Bachelard, Georges Canguilhem und schließlich Michel Foucault, der die Wissensgebiete um Wahnsinn, Geld, Linguistik, Botanik und schließlich auch Subjektivität für die Philosophie „annektiert“ habe.[1]

Die Philosophische Linguistik, die Philosophische Botanik, die Philosophische Physik haben nicht etwa den komischen Ehrgeiz, die sogenannten wissenschaftlichen Kollegen arbeitslos zu machen. Es geht nicht um Überwindung oder Ablösung sondern um Parallelaktionen von seiten der Philosophie. Annexionen durch die Philosophie und für die Philosophie zur Anreicherung, zur Begrenzung der wissenschaftlichen Diskurse, die ohne Philosophie auskommen.

Sozusagen aristotelische Aktionen in Nachahmung seiner Enzyklopädik.
  
Walter Seitter


[1] Siehe Alain Badiou: Kleines tragbares Pantheon (Berlin 2011): 16, 86f. 


PS: Im vorigen Protokoll ist aus "und wie ist das Konkrete diese beiden" fälschlicherweise "und wie ist das Konkrete dieser(!) beiden" geworden, was im Weiteren in die Irre geführt haben dürfte ... hier nun die richtige Version: In der Metaphysik lesen (1000a 5 – 1000a 24)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen