Hier einige Anmerkungen,
sozusagen ein Zwischenbericht, nach sechseinhalb Jahren Aristoteles-Lektüre,
unter dem scheinbar entgegengesetzten Titel „Die Banalität der Weisheit“.
Das Erstaunliche an
Aristoteles scheint mir das zu sein, daß er erstaunlich ist, obwohl er von
allen berühmten Philosophen so ungefähr der gewöhnlichste, ja banalste ist.
Nichts von dem Geheimnisvoll-Dunkeln der Vorsokratiker, nichts von dem
gelegentlichen Enthusiasmus Platons, nichts von der Endlos-Dichtung des
Lukretius, wenig von den fast ebenso endlosen Verstiegenheiten Kants, nichts
von dem verführerischen Schwung der hegelschen Dialektik, nichts von den noch
verführerischeren Aphorismen Nietzsches, nichts von den
hartnäckig-hinterhältigen Holzwegen Heideggers.
Höchstens von allen diesen
Qualitäten ganz selten eine kleine Anwandlung – hineingestreut in eine graue
Prosa, die klar sein will, oft auch ist, fast immer die „Sache selbst“ zur
Sprache bringen will, manchmal aber doch sich in ihrer Eigenheit reflektiert
oder verhaspelt, manchmal mit Lakonie Eleganz erzeugt oder auch Fragen offen
läßt. Manchmal sich in Polemiken verstrickt und wiederholt.
Graue, sachliche, fast
immer nachvollziehbare (wenn auch nicht immer zustimmungsfähige) Prosa.
Philosophie? Hellmuth Flashar macht die wohl doch erstaunliche Aussage,
Aristoteles habe alle Wissenschaftsgebiete durch eigene Forschung bereichert –
außer Medizin und Botanik. Damit muß er implizieren, er habe auch zur
Mathematik beigetragen (was die Forschung tatsächlich schon vor über 100 Jahren
aufgewiesen hat) (während ihm heute von einigen sogar der mathematische
Sachverstand abgesprochen wird). Allerdings darf man die Frage stellen, ob denn
das Philosophie sei: alle Wissenchaften machen.
In dem Buch, das wir jetzt
lesen, in der Metaphysik, geht es anscheinend um eine „extra“ gesuchte,
um eine zusätzliche Wissenschaft. Für die sucht er auch einen Namen und im
ersten Buch nennt er sie – vorläufig – mit dem althergebrachten und
altehrwürdigen Namen „Weisheit“. Zur Definierung der Weisheit setzt er als
Kriterien die Qualitäten wissend, genau, lehrend, wißbar, ursächlich, allgemein
ein: je mehr eine Wissenschaft von diesen Kriterien verwirklicht, je höher das
Maß ist, in dem sie das tut, je mehr sie sich dem Superlativischen dieser
Qualitäten nähert, umso mehr kann sie auf den Titel „Weisheit“ Anspruch
erheben. Für die Superlative selbst setzt er dann die Qualität „göttlich“ ein
und die höchste Wissenschaft ist dann die göttliche vom Göttlichen.
Aber sie ist nur die
oberste Spitze einer riesigen Pyramide, die viele Grade von Genauigkeit,
Lehrendheit, Ursächlichkeit, Allgemeinheit kennt. Die Basis der Pyramide ist
die Wissenschaft von allen Dingen – wohlgemerkt in ihrer Allgemeinheit.
Die Wissenschaft von allen
Dingen die gab es zu Aristoteles’ Zeiten in zwei Stufen: zuvörderst als
Nebeneinander einzelner Forschungen, wobei etwa Mathematik, Medizin und Geschichtsschreibung
zu seiner Zeit schon längst entwickelt waren und wobei er als Forscher
ebenfalls mannigfaltige Beiträge lieferte. Das ist das Nebeneinander,
Miteinander und Gegeneinander der Wissenschaften – bis heute.
Die Wissenschaft von allen
Dingen, die gibt es aber auch als Philosophie oder als unterste Stufe der
Weisheit. Das heißt es gibt sie doppelt – wenn die Philosophie sich dazu
herabläßt, sich auch für die gewöhnlichen Dinge zu interessieren und wenn sie
das ohne sachfremden Hochmut tut. Aristoteles bewegt sich in diesem
Zwischenraum – den es bis heute gibt, aber nur wenn man ihn erschafft. Im 20.
Jahrhundert haben das laut Alain Badiou die sogenannten Epistemologen getan
oder zumindest ermöglicht: Jean Cavaillès, Alexandre Koyré, Gaston Bachelard,
Georges Canguilhem und schließlich Michel Foucault, der die Wissensgebiete um
Wahnsinn, Geld, Linguistik, Botanik und schließlich auch Subjektivität für die
Philosophie „annektiert“ habe.[1]
Die Philosophische
Linguistik, die Philosophische Botanik, die Philosophische Physik haben nicht
etwa den komischen Ehrgeiz, die sogenannten wissenschaftlichen Kollegen
arbeitslos zu machen. Es geht nicht um Überwindung oder Ablösung sondern um
Parallelaktionen von seiten der Philosophie. Annexionen durch die Philosophie
und für die Philosophie zur Anreicherung, zur Begrenzung der wissenschaftlichen
Diskurse, die ohne Philosophie auskommen.
Sozusagen aristotelische
Aktionen in Nachahmung seiner Enzyklopädik.
Walter Seitter
PS: Im vorigen Protokoll ist aus "und wie ist das Konkrete diese beiden" fälschlicherweise "und wie ist das Konkrete dieser(!) beiden" geworden, was im Weiteren in die Irre geführt haben dürfte ... hier nun die richtige Version: In der Metaphysik lesen (1000a 5 – 1000a 24)
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