Meine neuerliche
Berlin-Reise hatte wiederum einen ins Theoretische gehenden Grund, nämlich die
Präsentierung von Tumult 40: Friedrich Kittler – Technik oder Kunst?
Sonntag, 8. Juni. Schon am
Vormittag sehe ich in Potsdam eine große Ausstellung zum 100. Geburtstag des
Malers Siegward Sprotte (1913-2004). Ich habe ihn 1980 in Kampen auf Sylt
kennengelernt und er hat mir das philosophische Grundmotiv „Sehen und Sagen“ nahegebracht,
das in meine „Philosophische Physik“ eingegangen ist. Daher habe ich ihn in der
Physik des Daseins zitiert (siehe Seite 13f.) und war wohl einer der
ersten, die den Maler einen Philosophen genannt haben.
In Potsdam stoße ich
zufällig auf die Vertretung der „Prußen Stiftung Tolkemita“, welche das
spärliche Erbe des Volkes der Preußen zu wahren sucht. Dieser Sache war Tumult
21: preußisch gewidmet.
Montag, 9. Juni. Im
Literaturhaus treffe ich Peter Berz, Mai Wegener, Joulia Strauss und wir
besprechen die für Mittwoch vorgesehene Tumult-Präsentierung. Am Abend
treffen wir im Terzo Mondo Kostas Papanastastasiou, einen Sänger und
Schauspieler. Vor ungefähr 10 Jahren habe ich in seinem Lokal sowohl ihn wie
auch Joulia singen hören: ihn als zeusartig-mächtigen Volkssänger, sie als
artifizielle Neugriechin (sie betreibt ungefähr alle Künste im Kittler-Feld).
Dienstag, 10. Juni. In der
Neuen Nationalgalerie, dem von vielen gerühmten puren Glas-Quader, haben
derzeit die 40 Skulpturen aus weißem Marmor, die das Spree-Athen um 1800
repräsentieren und die sonst in der „Schinkel-Kirche“ aufgestellt sind,
Unterstand gefunden. Eine große Gesellschaft aus griechischen Gottheiten,
deutschen Geistesgrößen. In der Nationalgalerie stoße ich auf die Città
Ideale aus dem späten 15. Jahrhundert: eine ideale Stadtlandschaft, deren
Marmorboden unmittelbar in die gleich hohe Meeresoberfläche übergeht und die
nicht nur auf Holz gemalt ist, sondern die auch auf einem gemalten Holzsockel
aufruht. Ein Gleichnis Venedigs.
Mittwoch, 12. Juni. Eine
Tagung über „Griechische Identität als ein philosophisches Problem – von den
byzantinischen Zeiten bis zur heutigen Krise in Griechenland“. Vortrag von
Christos Giannaras (Athen) über „Die ideologische Version der politischen
Identität und der griechische tropos“. Ich lese seit vielen Jahren die
Artikel von Giannaras in der Tageszeitung Kathimerini, wo er sein Bild
des Griechentums den jetzigen Griechen entgegenhält. Er ist ein Philosoph, der
aus der theologischen Richtung der „Neo-Orthodoxie“ stammt. Und diese
Denkrichtung ist in dem Vortrag von Dionysios Skliris (Paris) näher dargestellt
worden – unter Einbeziehung von Giannaras. Diese Schule versucht eine
Erneuerung der Theologie von der mystischen Richtung des Hesychasmus aus, und
setzt auch Motive von Husserl, Heidegger, Lacan ein. Ein wichtiges Thema für
diese Theologen ist die Trinität mit ihren anthropologischen Implikationen.
Diesem Thema hat übrigens der Thessalonicher Psychoanalytiker Christos Sidiropoulos
eine umfangreiche philosophisch-psychoanalytische Arbeit gewidmet.
Am Abend dann die Feier zum
70. Geburtstag von Friedrich Kittler mit der Präsentierung des Tumult-Bandes
(der bis dato nur absentiert worden war). Dabei ist ein anderer Blick auf das
griechische Erbe getan worden: ein eher naturwissenschaftlich inspirierter. Im
Verlauf dieses Abends haben Joulia Strauss, Peter Weibel und ich die Einzigkeit
des „Urknalls“ in Frage gestellt: Rückgang von der Explosion zur Gravitation,
vom „Knall“ zum „Ur“, Auflösung des „Ur“ in u und r .... Neben dem Tumult-Band
wird auch Friedrich Kittler: Philosophien der Literatur vorgestellt.
Donnerstag, 13. Juni. Ich
treffe Christian Bertram und Simone Bernet, die eben aus Rom, Pompeji, Neapel
zurückgekehrt sind. Berichte von Tizian, Marées, Wandmalerei. Im Atelier von
Joulia Strauss sehe ich eine Schildkröte aus Glitzerdraht (so wie ihr
Kittler-Porträt). Ich sehe und sage dieses Auf- und Abtauchen der
Regenbogenfarbenpunkte, wie ich es auch im schwarzen Sand von Kos gesehen habe.
Ich praktiziere die Philosophische Physik (deren Buchausgabe jetzt ins
Neugriechische übersetzt wird).
Walter Seitter
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