τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 15. Februar 2013

In der Metaphysik lesen (996b 26 – 997b 12)

Obwohl die Suche nach der „gesuchten Wissenschaft“ offensichtlich auf eine bestimmte Wissenschaft hinauslaufen soll, stellt Aristoteles immer wieder die Frage, ob diese oder jene Wissenschaftsaufgabe von einer Wissenschaft oder von mehreren bewerkstelligt wird. Und so gut wie immer antwortet er: von mehreren. Es geht also nicht um die Gründung einer Wissenschaft, in der alle übrigen aufgehen oder verschmelzen sollen. Zwar schreibt er der gesuchten Wissenschaft allerhöchste Qualitäten und Titel und Superlative zu: aber eine Monopol- oder Einheitswissenschaft hat er nicht im Sinn. Derlei ist im Abendland gelegentlich ins Auge gefaßt, ja gewünscht worden – sei es mehr von philosophischer Seite oder mehr von einer anderen Seite; aber nie hat es sich durchgesetzt. Abendländische Wissenschaftskultur heißt geradezu: Wissenschaftspluralismus. Die gesuchte Wissenschaft mag noch so sehr als Fundierung oder als Bekrönung aller anderen Wissenschaften, als ihre Grundlegung und gewissemaßen als ihre Ermöglichung  verstanden werden. Tatsächlich kommt sie zu ihnen dazu, denn sie – die Wissenschaften – sind immer schon da: mindestens zwei bescheidene Igel organisieren und gliedern das Wissen von diesen Dingen und von jenen Dingen: von den mathematischen, von den eßbaren, von den heilenden.

Fundament oder Supplement?

Ist die Wissenschaft von den logischen Denkgesetzen dieselbe wie die Wissenschaft von den Wesen? Nein, denn die Denkgesetze werden in allen Wissenschaften vorausgesetzt, angewandt. Die Wesenserfassung gehört zu den Annahmen, die nicht bewiesen werden: „Es scheint nicht, daß es eine Beweisführung des Was ist? gibt.“ (997a 32). Wohl aber werden die „wesentlichen Akzidenzien“ von den Wesenheiten abgeleitet, denen sie notwendig zugehören (997a 22). Zwar spricht Aristoteles hier hauptsächlich von den „wesentlichen Akzidenzien“ – aber nicht nur. Die Betrachtung der Akzidenzien wird hier entschieden zur Aufgabe der Wissenschaft erklärt – weniger eindeutig entschieden wird darüber, ob die Betrachtung und das Studium der Akzidenzien einer gesonderten Wissenschaft zugewiesen wird.

Jedenfalls widersprechen diese Äußerungen der allgemeinen aristotelischen Linie, derzufolge es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt. In seinem Gesamtsystem könnte die wissenschaftliche Behandlung der Akzidenzien nur in einer „niedrigen“ Stufe von Wissenschaft stattfinden – also weit weg von der „gesuchten Wissenschaft“. Diese „Herablassung“ zu den Akzidenzien findet sich übrigens viel prägnanter im Buch über die Seele, wo Aristoteles zuerst betont, daß man die Wesenheit kennen muß, um die Usachen der Akzidenzien zu betrachten. Sodann gelte aber auch das Umgekehrte: „Die Akzidenzien tragen viel dazu bei, um die Washeit zu verstehen .... Daher sind alle Definitionen, aus denen sich keine Erkenntnis der Akzidenz ergibt, nur dialektische und leere Redensarten.“ (402b 30ff.)

Und im Anschluß steigt Aristoteles wiederum auf eine sogenannte höhere Ebene und stellt die Frage, ob es tatsächlich neben den veränderlichen Dingen der Natur, sei es am Himmel oder sonstwo, die gleichen Dinge aber unveränderlich, ewig gebe, und zwar selbständig existierend. Also eine Verdoppelung der Dinge – aber sozusagen in verbesserter, ja idealer oder optimaler Ausgabe. Diese Verdoppelung, die eine vollkommene, eine unvergängliche Welt bilden könnte, wird von Aristoteles nicht für wahrscheinlich gehalten. Und er wagt es, eine solche Konstruktion deutlich als Konstruktion zu kennzeichnen, und außerdem wagt er es, sie mit einer anderen Konstruktion zu vergleichen, die er ebenfalls zu einer Konstruktion erklärt, nämlich der Annahme von Göttern, die menschengestaltig seien, was nichts anderes sei, als ewige Menschen zu „machen“ (997b 10ff.) Es sieht so aus, daß er damit den seinerzeitigen griechischen Polytheismus aufs Korn nimmt. Und auch das Christentum, das es damals noch nicht gab, dürfte damit an entscheidender Stelle getroffen sein.

Mit anderen Worten: die Suche nach einer „gesuchten Wissenschaft“, die mit allerhöchsten Qualitäten tituliert wird, besteht nicht in der Annahme, Aufstellung, Konstruktion irgendwelcher Vollkommenheiten.

Walter Seitter

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