τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 21. September 2012

Nachschlag zur „Handlung“


Die Ausstellung „Carl Schuch. Ein europäischer Maler“ gibt Gelegenheit, auf einen Aspekt unsere Poetik-Lektüre zurückzukommen, weil der Anblick der Bilder und außerdem manche Ausführungen im Katalog eine Analogie zur aristotelischen Konstruktion einer „Handlung“ aus den pragmata nahelegen.

Carl Schuch (Wien 1846 – Wien 1903) hat sein malerisches Arbeiten um 1870 begonnen, als sich neben der überwiegend historistischen „Salonmalerei“ die Schule des sogenannten Realismus schon breitgemacht hatte. Die Malerei der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Klassizismus, Biedermeier), die hauptsächlich den glatten, „harten“ Oberflächeneindruck kultiviert hatte, lag also schon weit zurück, obgleich auch diese Malweise immer noch ihre Anhänger hatte.
Schuch malte von Anfang an Landschaften in der Art des „Realismus“, der die Oberflächen „vergröbert“, etwas „aufraut“. Mit seinen Bleistiftzeichnungen hat er das „Zerfasern“ ins Kleinteilig-Vielfältige noch stärker, gewissermaßen leichter vorangetrieben: denn der spitze Bleistift liefert von Natur aus ganz feine Wimpernhärchen. Die Tendenz zur Auflösung der harten und glatten Oberflächen – Oberflächen der abgebildeten Gegenstände oder Bildoberflächen – gab es damals längst bei den Malern der führenden Nationen: bei den Engländern wie John Constable und erst recht William Turner; bei dem Franzosen Eugène Delacroix, der als Romantiker gilt und wohl eher als Neubarocker bezeichnet werden kann, bei Gustave Courbet, der den Begriff „Realismus“ erfunden hat, bei der Schule von Barbizon, die den Impressionismus vorbereitete; bei den bayerischen Realisten Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner, wo Carl Schuch erstmals Gleichgesinnte fand.
Für Carl Schuch ist es nun bezeichnend, dass er den Weg der malerischen Oberflächenauflösung vorsichtig, tastend, experimentierend, in unterschiedlichen Richtungen beschreitet. Auflösung ins Flüssige oder ins Luftige, Aufweichung oder Zersplitterung. Sogar Rückgriffe auf barocke Kompositionen kommen vor, wo sich die Stücke schräg gegeneinander aufspreizen oder aber irgendwohin abzugleiten drohen. Zumeist eröffnet sich Schuch den Raum zu seinen Dramatisierungen, indem er die Dinge mikroskopisch vergrößert, sich in ihr Inneres hineinbohrt und es zur Schau stellt. Mit feinsten Farbabstufungen einerseits und grellen Helldunkelkontrasten andererseits, mit ungewohntem Einsatz der „Farbe“ Weiß und mit kurzen Pinselstrichen, die kreuz und quer gegeneinander drängen, legt er wie ein Mikrophysiker die Partikel bloß, die anscheinend unsere Dingwelt konstituieren. Unregelmäßig hingesetzte Farbflecken erzeugen in ihrer anscheinenden Gegenstandsferne sehr wohl ganz bestimmte Dingeindrücke wie die von Glasgefäßen, Silberdosen oder Ziegenkäse, von bemoosten Steinen, Wasserspiegelungen oder Felswänden.

Carl Schuch hat seine Malerei nicht etwa rein genialisch oder gar „unbewußt“ hingeworfen. Er war – ähnlich wie Paul Cézanne – ein lebenslänglich Lernender, Dazu- und Weiterlernender. Er schaute sich in den großen Museen ebenso um wie bei seinen zeitgenössischen Kollegen, mit vielen von ihnen war er befreundet. Er las die aktuellen Bücher zur Farbentheorie und zur Kunstlehre. Er formulierte seine Fragen und seine Anliegen auch selber und legte dabei einen ausgesprochen reflexiven, ja wissenschaftlichen Zug an den Tag. Seine Stillleben baute er selber auf und in der Landschaft suchte er nach solchen Ausblicken, die ihm „möglichst einfache Natur“ liefern: „nichts als das Problem“ – nämlich das Problem des Wie der Darstellung. Er wollte Realitätsstücke malen, wo die einfachen Dinge das Drama der Farben aufführen: die „coloristische Handlung“, wie er selber schreibt.
Das ist genau der Handlungsbegriff der aristotelischen Poetik: nämlich ein Zusammenhang, eine Verschränkung, die Franzosen sagen eine „Intrige“, die sich aus vielen wenn man will Mikrohandlungen, Elementartaten, Molekularwirkungen zusammensetzen. Im Falle der Malerei sind es die gebrochenen oder lauten, die verhaltenen oder volltönenden Farben, die von den so oder so geformten Pinselstrichen vorgetragen worden. Jeder Farbton ist eine kleine Tat, eine kleine Tatsache, eine Erscheinungstatsache, die ihrerseits von den Pinselstrichen ausgehen, die zweifellos Taten, Mikrotaten des Malers sind. Aber die Gesamthandlung des Gemäldes beruht direkt auf den Mikrotatsachen des Gemäldes. Rilke zu Cézanne: „Wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muss, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Wer dazwischenspricht, wer seine menschliche Überlegung irgend mit agieren läßt, der stört schon ihre Handlung.“
Die Mikrotatsachen heißen bei Aristoteles pragmata. In der Dichtung handelt es sich dabei natürlich nicht um Farbflecken sondern um Elementarteilchen der dramatischen oder epischen Handlung, also kleinste Handlungsschritte, alle möglichen, nein alle wirklichen Initiativen, Versuche, Zögerungen, erwünschte und unerwünschte Wirkungen, Zufälle, einfach alle Vorkommnisse, woher sie auch kommen und wozu sie auch führen. Sie führen zu, sie wirken zu einer Gesamthandlung zusammen, die gerade nicht irgendwelchen menschlichen Absichten entsprechen muss (die allerdings auch eingeflossen sein müssen).

Innerhalb des Dichtwerks folgen die Elementarteilchen, die Aristoteles pragmata nennt, auseinander. Also sind pragmata Ursachen für pragmata. Wie passt das zur Lehre von den vier Verursachungslinien Natur oder Kunst (Denken) oder automaton oder tyche? In Natur oder Kunst sind die Ursachen, vor allem die Wirk-, aber auch die Formursachen Substanzen, eben der Vater oder der Künstler. Natürlich gilt das auch für die hier erwähnten Kunstwerke: Maler oder Dichter. Der Maler ist der Hauptverursacher für sein Werk. Aber das Werk ist ja ein komplexes Gebilde, innerhalb dessen eigene Verursachungsverhältnisse erzeugt werden, die ihrerseits wieder Verursachungsverhältnisse „nachahmen“ also darstellen sollen. Wenn Carl Schuch Bäume im Wald malt, so malt er auch die Schatten, die von den Bäumen geworfen also erzeugt werden. Seine spezielle Malkunst möchte sich aber nicht mit dieser bekannten oder normalen Verursachung begnügen, sie möchte in die Mikrophysik des Schattens eindringen und diese offenlegen; ganz bestimmte Pinselstriche sollen kausal so zusammenwirken, dass sich gerade dieses Schattendunkel ergibt. Nach Aristoteles sind die pragmata Akzidenzien und wenn Akzidenzien ursächlich wirken, kommen wir in den Bereich der beiden „unnormalen“ Ursachen: automaton oder tyche. Wirken die Elementarteilchen, wenn sie ursächlich wirken, eher „automatisch“ oder „tychisch“?

Walter Seitter