τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 23. April 2012

In der Metaphysik lesen (991b 15 – 992b 24)


Rückblickend sehe ich, daß Aristoteles bereits vor der Wortprägung autoanthropos, an der er mit dem Artikel to eine regelrechte Geschlechtsumwandlung vornimmt (aber nicht eine Umwandlung von einem sexuellen Geschlecht in ein anderes, sondern eine Entsexualisierung), daß er bereits in 991a 4 eine ähnliche Operation vornimmt, und zwar an dem Wort dyas (Zweiheit), einem Wort weiblichen grammatischen Geschlechts, das er da öfter verwendet; und einmal versieht er es mit dem Artikel to, so daß man ganz wörtlich übersetzen müßte „das Zweiheit“. Mein Übersetzer sagt hier „die Zwei an sich“ – und macht auf diese Weise einigermaßen kenntlich, daß Aristoteles damit die platonische Idee der Zweiheit meint.

Die heute anstehende Textpassage beschäftigt sich immer noch mit dem „pythagoräischen“ Anteil an der Lehre Platons. Wir betrachten sie nur flüchtig, weil sie sich unserem Verstehen kaum erschließt und weil sie für unser Erkenntnisziel wenig beizutragen scheint.
In 992a 24 heißt es, „wir“ hätten mit unserer platonischen Redeweise zur angestrebten Ursachenerkenntnis nichts beigetragen. Anscheinend eine platonische Selbstkritik, die Aristoteles einfach so vorträgt – oder zitiert? Im Schlußsatz allerdings ein anderes und entgegengesetztes Wir, ein rein aristotelisches. Eine Spur von Dialog-Form? Dann eine pointierende Zusammenfassung der Kritik an den „heutigen Philosophen“, nämlich den Platonikern: die Mathematik ist ihnen zur Philosophie geworden, obwohl sie selber sagen, die Mathematik könnte nur eine Art Hilfswissenschaft für eine anderweitige Erkenntnis sein. (992a 33f.) Wir stellen fest, daß es diese „heutigen Philosophen“ nicht nur damals, also im Jahre 320, gegeben hat. Ausdrücklich hat sich Galileo Galilei, etwa um 1620, in diese Spur gestellt (um die Physik zu erneuern), und auch in unserer Gegenwart finden sich derartige Versuche. Es wird vorgeschlagen, das Ausweichen in Richtung Mathematik damit zu begründen, daß man in der Philosophie, wie sie häufig betrieben wird, zu wenig Genauigkeit antrifft, und daher Mathematik macht und diese dann für Philosophie hält.
Die nächsten Passagen überspringen wir. Sie fassen diffizile Diskussionen zusammen, in denen Aristoteles – wieder und wieder - die pythagoräisierenden Platoniker zu widerlegen versucht.
In 992b 18 geht Aristoteles direkt zu seinem Programm über, indem er behauptet, man könne die Elemente der Seienden nur finden, wenn man bei der Untersuchung der Seienden darauf achtet, daß die Seienden als seiende „vielfach“ ausgesagt werden. Mit einer Partizipialkonstruktion importiert hier Aristoteles in seine methodische Grundsatzerklärung einen Hauptsatz seiner Philosophie; daß nämlich das Seiende – als solches - vielfach ausgesagt werde (siehe Met. IV, 1003 33). Auch wenn wir jetzt nicht den genauen Sinn dieses Hauptsatzes erörtern, so dürfen wir uns ein intuitives Verständnis der Grundsatzerklärung zurechtlegen und zwar in direkter Bezugnahme zu dem oben angschnittenen Postulat der Genauigkeit in der Philosophie: es gibt nicht nur die mathematische Genauigkeit; Genauigkeit ist auch eine philosophische „Tugend“ und sie kann durch Differenzierung geleistet werden.
Machen wir uns den Satz in seinen Grundzügen klar. Das Materialobjekt der ins Auge gefaßten Untersuchung sind die Seienden, die seienden Dinge, nicht etwa „das Seiende“ wie meine Übersetzung schreibt - der Plural ist nicht unwichtig. Wenn eine neugriechische Übersetzung (allerdings eine alte) ton onton mit tou Einai wiedergibt, dann geht der Fehlgriff wirklich weit: Singular statt Plural, Infinitiv statt Partizip und die Großschreibung des Infinitivs suggeriert eine schon beinahe theologische Dimension. Was war das für ein Neugrieche – er soll sich schämen. Aristoteles ist viel moderner – im besten Sinne des Wortes. Von den im Plural stehenden onta sollen die Elemente aufgefunden werden; das sei aber nur möglich, wenn berücksichtigt wird, daß sie – als Seiende – „vielfach ausgesagt“ werden. Das Ausgesagtwerden des oder der Seienden – hier in den Plural gesetzt – ergibt, wenn man ein Substantiv bildet, das eine Disziplin bezeichnen kann, das Wort „Ontologie“. Und da dieses Ausgesagtwerden adverbial „vielfach“, „in vielen Hinsichten“ geschieht, kann man die entsprechende Ontologie als eine „multiple“ oder „differentielle“ bezeichnen.
Am 28. Jänner habe ich bereits davon gesprochen, daß die Untersuchung des vorliegenden Buches in der Antike mit dem Namen „Metaphysik“ belegt worden ist. In der frühen Neuzeit hat man dann den Begriff „Ontologie“ geprägt, der gerade einer solchen Textstelle wie der hiesigen genau zu entsprechen scheint: Aufsuchen der Elemente ton onton .......legomenon. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß auch der Begriff „Metaphysik“ eine Untersuchungsrichtung des Buches formuliert – aber eine andere.
Allerdings bleibt in dem von uns untersuchten Satz ein Rest ungeklärt: die beiden Wörter me dielontas bleiben aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse unübersetzt, und ich finde auch in den vorliegenden Übersetzungen nichts Entsprechendes. Sind das zwei Wörter ohne Bedeutung (me heißt „nicht“ und dieleontas ...?)
Dann nennt Aristoteles drei Seiende – das Tun, das Leiden, das Gerade, deren Elemente nicht aufgefunden werden können. Die drei sind ja Akzidenzien und in einem Nachsatz erklärt Aristoteles nur die Elemente der Wesen lassen sich erfassen (und über die dann vielleicht auch die der Akzidenzien). Die negative Aussage über die Akzidenzien entspricht der oft geäußerten aristotelischen Auffassung, es gebe keine Wissenschaft vom Akzidens (vgl. Met. Vi, 1026b 26ff.). Und es folgt ein Satz, der dem Projekt, die Elemente der seienden Dinge auffinden zu wollen, eine Absage erteilt, sofern damit „alle Seienden“ gemeint sind. Ein derartiger Anspruch wird sogar als „nicht wahr“ abqualifiziert.

Walter Seitter

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