τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 26. April 2012

In der Metaphysik lesen (992b 24 - 34)


Als Zielbestimmung seiner neuen Wissenschaft hat Aristoteles festgesetzt: die Elemente der Seienden auffinden. In einem zweiten Schritt hat er dieses Ziel wieder eingeschränkt: es sei nicht möglich, die Elemente aller Seienden zu erkennen. Trotzdem gleich anschließend die Frage, wie man etwa doch die Elemente aller Dinge lernen könne – ohne vorher existiert und erkannt zu haben (womit die platonische Präexistenz mit Ideenschau ausgeschlossen wird). Die Ausschließung der Vor-Kenntnis wird für das Erlernen der Geometrie (als Beispiel) zur Bedingung erklärt, womit ein scharfer Begriff des Lernens geprägt wird: Übergang von Nicht-Kenntnis zu Kenntnis oder von Null zu etwas. Strikte Neuheit des Gelernten. Nur Außer-Geometrisches dürfe vorher schon gewußt sein. Womit Aristoteles dem Vorwissen doch einen Platz einräumt und diesen sogar für notwendig erklärt: Vorwissen als Bei- oder Um-Wissen. Wenn jedoch ein Erkennen von allen Sachen zur Lernaufgabe erklärt wird, dann könnte die Neuheit oder Erstheit des Erlernten nur durch schlechthinniges Nichtwissen „garantiert“ werden – eine formale Anforderung, die ans Absurde grenzt und auch durch den sokratischen Satz „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ kaum gerechtfertigt werden kann (wiewohl dieser Satz das Lernen als Erkenntnis-Sprung, das Lernen aus Enttäuschung formulieren kann). Also Lernen aus etwas – oder aus nichts? Eine Kompromißlösung könnte so aussehen und zwar für das Problem der hier gesuchten Wissenschaft: deren Kenntnis wäre uns – etwa platonisch – angeboren, aber wir wüßten davon nichts. Aristoteles nennt diese Möglichkeit, doch erscheint sie ihm sehr paradox. Sie würde der Struktur des freudianischen Unbewußten entsprechen – doch dessen Inhalt wären nicht irgendwelche Wünsche oder dergleichen sondern eben die höchste Wissenschaft (jungianisches oder lacanianisches Unbewußtes - ?). Aristoteles führt diese Diskussion nicht weiter – jedenfalls nicht auf der abstrakten Ebene.

WS

Montag, 23. April 2012

In der Metaphysik lesen (991b 15 – 992b 24)


Rückblickend sehe ich, daß Aristoteles bereits vor der Wortprägung autoanthropos, an der er mit dem Artikel to eine regelrechte Geschlechtsumwandlung vornimmt (aber nicht eine Umwandlung von einem sexuellen Geschlecht in ein anderes, sondern eine Entsexualisierung), daß er bereits in 991a 4 eine ähnliche Operation vornimmt, und zwar an dem Wort dyas (Zweiheit), einem Wort weiblichen grammatischen Geschlechts, das er da öfter verwendet; und einmal versieht er es mit dem Artikel to, so daß man ganz wörtlich übersetzen müßte „das Zweiheit“. Mein Übersetzer sagt hier „die Zwei an sich“ – und macht auf diese Weise einigermaßen kenntlich, daß Aristoteles damit die platonische Idee der Zweiheit meint.

Die heute anstehende Textpassage beschäftigt sich immer noch mit dem „pythagoräischen“ Anteil an der Lehre Platons. Wir betrachten sie nur flüchtig, weil sie sich unserem Verstehen kaum erschließt und weil sie für unser Erkenntnisziel wenig beizutragen scheint.
In 992a 24 heißt es, „wir“ hätten mit unserer platonischen Redeweise zur angestrebten Ursachenerkenntnis nichts beigetragen. Anscheinend eine platonische Selbstkritik, die Aristoteles einfach so vorträgt – oder zitiert? Im Schlußsatz allerdings ein anderes und entgegengesetztes Wir, ein rein aristotelisches. Eine Spur von Dialog-Form? Dann eine pointierende Zusammenfassung der Kritik an den „heutigen Philosophen“, nämlich den Platonikern: die Mathematik ist ihnen zur Philosophie geworden, obwohl sie selber sagen, die Mathematik könnte nur eine Art Hilfswissenschaft für eine anderweitige Erkenntnis sein. (992a 33f.) Wir stellen fest, daß es diese „heutigen Philosophen“ nicht nur damals, also im Jahre 320, gegeben hat. Ausdrücklich hat sich Galileo Galilei, etwa um 1620, in diese Spur gestellt (um die Physik zu erneuern), und auch in unserer Gegenwart finden sich derartige Versuche. Es wird vorgeschlagen, das Ausweichen in Richtung Mathematik damit zu begründen, daß man in der Philosophie, wie sie häufig betrieben wird, zu wenig Genauigkeit antrifft, und daher Mathematik macht und diese dann für Philosophie hält.
Die nächsten Passagen überspringen wir. Sie fassen diffizile Diskussionen zusammen, in denen Aristoteles – wieder und wieder - die pythagoräisierenden Platoniker zu widerlegen versucht.
In 992b 18 geht Aristoteles direkt zu seinem Programm über, indem er behauptet, man könne die Elemente der Seienden nur finden, wenn man bei der Untersuchung der Seienden darauf achtet, daß die Seienden als seiende „vielfach“ ausgesagt werden. Mit einer Partizipialkonstruktion importiert hier Aristoteles in seine methodische Grundsatzerklärung einen Hauptsatz seiner Philosophie; daß nämlich das Seiende – als solches - vielfach ausgesagt werde (siehe Met. IV, 1003 33). Auch wenn wir jetzt nicht den genauen Sinn dieses Hauptsatzes erörtern, so dürfen wir uns ein intuitives Verständnis der Grundsatzerklärung zurechtlegen und zwar in direkter Bezugnahme zu dem oben angschnittenen Postulat der Genauigkeit in der Philosophie: es gibt nicht nur die mathematische Genauigkeit; Genauigkeit ist auch eine philosophische „Tugend“ und sie kann durch Differenzierung geleistet werden.
Machen wir uns den Satz in seinen Grundzügen klar. Das Materialobjekt der ins Auge gefaßten Untersuchung sind die Seienden, die seienden Dinge, nicht etwa „das Seiende“ wie meine Übersetzung schreibt - der Plural ist nicht unwichtig. Wenn eine neugriechische Übersetzung (allerdings eine alte) ton onton mit tou Einai wiedergibt, dann geht der Fehlgriff wirklich weit: Singular statt Plural, Infinitiv statt Partizip und die Großschreibung des Infinitivs suggeriert eine schon beinahe theologische Dimension. Was war das für ein Neugrieche – er soll sich schämen. Aristoteles ist viel moderner – im besten Sinne des Wortes. Von den im Plural stehenden onta sollen die Elemente aufgefunden werden; das sei aber nur möglich, wenn berücksichtigt wird, daß sie – als Seiende – „vielfach ausgesagt“ werden. Das Ausgesagtwerden des oder der Seienden – hier in den Plural gesetzt – ergibt, wenn man ein Substantiv bildet, das eine Disziplin bezeichnen kann, das Wort „Ontologie“. Und da dieses Ausgesagtwerden adverbial „vielfach“, „in vielen Hinsichten“ geschieht, kann man die entsprechende Ontologie als eine „multiple“ oder „differentielle“ bezeichnen.
Am 28. Jänner habe ich bereits davon gesprochen, daß die Untersuchung des vorliegenden Buches in der Antike mit dem Namen „Metaphysik“ belegt worden ist. In der frühen Neuzeit hat man dann den Begriff „Ontologie“ geprägt, der gerade einer solchen Textstelle wie der hiesigen genau zu entsprechen scheint: Aufsuchen der Elemente ton onton .......legomenon. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß auch der Begriff „Metaphysik“ eine Untersuchungsrichtung des Buches formuliert – aber eine andere.
Allerdings bleibt in dem von uns untersuchten Satz ein Rest ungeklärt: die beiden Wörter me dielontas bleiben aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse unübersetzt, und ich finde auch in den vorliegenden Übersetzungen nichts Entsprechendes. Sind das zwei Wörter ohne Bedeutung (me heißt „nicht“ und dieleontas ...?)
Dann nennt Aristoteles drei Seiende – das Tun, das Leiden, das Gerade, deren Elemente nicht aufgefunden werden können. Die drei sind ja Akzidenzien und in einem Nachsatz erklärt Aristoteles nur die Elemente der Wesen lassen sich erfassen (und über die dann vielleicht auch die der Akzidenzien). Die negative Aussage über die Akzidenzien entspricht der oft geäußerten aristotelischen Auffassung, es gebe keine Wissenschaft vom Akzidens (vgl. Met. Vi, 1026b 26ff.). Und es folgt ein Satz, der dem Projekt, die Elemente der seienden Dinge auffinden zu wollen, eine Absage erteilt, sofern damit „alle Seienden“ gemeint sind. Ein derartiger Anspruch wird sogar als „nicht wahr“ abqualifiziert.

Walter Seitter

Mittwoch, 4. April 2012

Die Geburt der Philosophie aus einem bestimmten Artikel - ?


Das Buch I der sogenannten Metaphysik bringt zunächste einige epistemologische Überlegungen, die eine mehr oder weniger neue, jedenfalls eine „gesuchte“ Wissenschaft in Aussicht stellen, sodann historisch-kritische Ausführungen zu Theorien, die als unvollkommene Vorläufer einer nun in Angriff zu nehmenden Wissenschaft gelten sollen; auf den letzten zwei Seiten wird wiederum diese näher ins Auge gefaßt und erstmals bekommt sie die Bezeichnung „erste Philosophie“.

Es sei nun dahingestellt, ob die historisch-kritischen Ausführungen uns mehr Informationen über die älteren Theoretiker oder über die aristotelische Betrachtungsweise bzw. die aristotelischen Positionen liefern. Herausgreifen möchte ich einen Punkt, den ich schon am 29. März bemerkt habe und der für eine größere Eigentümlichkeit der griechischen Philosophie steht.

Dieser Punkt sieht so aus, daß Aristoteles in seiner zweiten Auseinandersetzung mit der Lehre Platons, im Kapitel 9, die Idee des Menschen mit einem Ausdruck bezeichnet, der nicht dem gemeinen Sprachgebrauch entspricht, sondern einen Neologismus darstellt, dessen Bildung allerdings doch nicht ganz ungewöhnlich ist. Eine Wortbildung, die so zustandekommt, daß man einem Substantiv das Präfix „auto“ voranstellt, was die Bedeutung dieses Substantivs eher steigert, und zwar in Richtung Echtheit.  Beispiel: autopais = leiblicher Sohn. Der von Aristoteles gebildete Ausdruck lautet autoanthropos und würde nach dem üblichen Schema so etwas bedeuten wie echter, leibhaftiger Mensch. In der Übersetzung von Franz F. Schwarz heißt es „Mensch an sich“ – eine gewissermaßen kantische Übersetzung, sofern Kant das „Ding an sich“ erfunden hat. In unserem Text kommt der Ausdruck zweimal vor – 991a 29, 991b 19. Beide Male ergibt der Kontext, daß die platonische Idee des Menschen gemeint ist, die deutsche bzw. kantische Übersetzung nicht unrichtig erscheint.

Meinem momentanen Wissensstand zufolge gibt es bei Platon diese Wortbildung nicht und das heißt, daß Aristoteles hier für eine philosophische Erfindung seines Lehrers, und zwar für seine berühmteste Erfindung, nämlich die „Idee“, eine terminologische Ausdrucksweise nachgeliefert hat, die das Wort „Idee“ vermeidet, und stattdessen für die Idee eines jeden Wesens die Bezeichnung für das Wesen mit dem vorangestellten auto vorschlägt: autoanthropos heißt dann allerdings nicht „leibhaftiger Mensch“ wohl aber „echter Mensch“ im Sinne von „eigentlicher Mensch“, „wahrhafter Mensch“ oder „Urmensch“ – im platonischen Sinn. Der aristotelische Ausdruck stellt dieser Wortzusammensetzung noch ein anderes „Präfix“ voran, um seine naheliegende Bedeutung „leibhaftig“ von vorherein auszuschalten. Und das ist der bestimmte Artikel des dritten Geschlechts: to – so in 991a 29. Daher muß man wörtlich übersetzen: das Selbstmensch, das Eigentlich-Mensch oder das Mensch an sich. Mit diesem „das“ wird „Mensch“ eindeutig in eine andere Sphäre gehoben, eben in die Sphäre und in die Seinsart der platonischen Ideen. Wieso ausgerechnet Aristoteles das tut, und zwar in einem Text, der die platonische Ideenlehre skeptisch bis kritisch, ja polemisch bis ironisch behandelt, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen.

Die aristotelische Platonisierung mithilfe des „das“ ist allerdings nur ein Sonderfall für den Einsatz des „das“ – ein wie es scheint später, aber auch extremer. Ein später, denn dieser Text dürfte gegen Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus entstanden sein. Meine These nun geht dahin, daß dieser bestimmte Artikel des dritten Geschlechts einer der Hauptfaktoren für die  Erfindung der Philosophie gewesen ist, die sich ungefähr seit dem frühen 5. Jahrhundert zugetragen hat. Die Bildung von Neu-Substantiven mit dem Artikel „das“ war ein wichtiger sprachlicher Kunstgriff oder Trick, um einerseits alte und bekannte Wörter zu verwenden und andererseits durch die neue Wortform eine halb-neue, eine zwar verständliche, aber doch auch seltsame Redeweise zu schaffen. Dieser Sprach-Trick war nur möglich, weil das Griechische die auch uns bekannten drei grammatischen Geschlechter hatte und zwar mit den Artikeln (im Unterschied zum Lateinischen). Die Substantivierung mit dem Artikel to wurde zunächst vor allem an Adjektiven vollzogen: das Unendliche, das Trockene, das Gemeinsame (Pythagoras, Empedokles, Heraklit ...). Die Substantivierung von Adjektiven ist die naheliegendste, denn die Adjektive sind von den Substantiven nicht so weit entfernt. Übrigens lassen sich Adjektive auch mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht plausibel substantivieren: der Mächtige oder der Gütige oder die Schöne sind ebenfalls verständliche Wortbildungen.

Doch die Philosophie ist entstanden, indem die beiden sexuierten (sexuellen) Genera zurückgestellt, beiseitegedrängt wurden (die wurden den Dichtern überlassen) und das asexuelle dritte Genus den Vorrang erhielt. Mit dem wurden dann auch die Infinitive von Verben substantiviert – und das ist ein Schritt weit über die Substantivierung der Adjektive hinaus. In deren Rahmen gehört noch die Substantivierung von Partizipien (die sind ja Verbalnomina) – auch hier im dritten Geschlecht, vornehmlich bei Aristoteles: to on, ta onta. Aber Parmenides: to noein, to legein, to einai...  Das sind Kunstgriffe, die eigentlich das reflexive Wissen um die Sprache (Linguistik, Grammatik) ins Objektwissenschaftliche zu drehen suchen.

Vielleicht ist Aristoteles, der späte, am weitesten gegangen mit der Schöpfung von Begriffen mittels des Artikels to. Er hat aus der  Präposition metaxy mit dem to unseren Begriff „Medium“ geschaffen; das Temporaladverb nyn hat er mit dem Artikel substantiviert, um es in den Plural setzen zu können. Ja er hat ganze Sätze, wenn auch kleine, mit dem to quasi substantiviert, ja mehr, nämlich deklinierbar gemacht, also manipulierbar gemacht. Ti estin – ein kleiner Frage- oder Relativsatz, wird von Aristoteles mit tou in den Genitiv gesetzt, ich würde sagen gedreht: 988a 10f. Auch komplexere Verbalfolgen können mit dem Artikel to gleichsam zusammengepackt werden und dann wie Substantive eingesetzt werden. Berühmt: to ti en einai. Das to gehört zu einai, aber von dem hängt ab bzw. das wird bestimmt durch diese Art Nebensatz: ti en: was war.

Aristoteles hat einen frühesten Sprachtrick der frühesten Philosophen weitergetrieben und auf die Spitze getrieben. So auch mit to autoanthropos – womit zwar der eigentliche, der wahre Mensch bezeichnet wird, allerdings der platonische, der – angeblich – asexuelle: „das Mensch an sich“.

Walter Seitter