τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 23. Juni 2011

DIEFENBACH 2 - SAMMLUNG SCHMUTZ

Aufgrund eines Artikels im Falter ergab sich eine Gelegenheit noch mehr von dem momentan in der Hermesvilla ausgestellten Maler und Propheten Karl Wilhelm Diefenbach zu besichtigen: der Privatsammler Herr Schmutz hat aufgrund von Divergenzen mit den Ausstellungverantwortlichen seine Bilder dort nicht aufhängen lassen, lud aber im Zuge der im Falter veröffentlichten Klarstellung Interessierte ein, sich die Gemälde in seiner privaten Wohnung (in der Nähe der Sternwarte, 1180) anzuschauen - eine Einladung die wir gerne annahmen.

Bereits im Eingangsbereich hängen einige kleinformatige, aber zwischen den Bildern anderer Künstler deutlich hervorstechende Werke Diefenbachs: das etwa einen halben mal einen Meter große Porträt der schön traurig dreinblickenden Tochter des Meisters ist besonders in Erinnerung geblieben. Den klimatisierten Hauptraum der im Dachgeschoß befindlichen Privatausstellung dominieren drei prächtige Großgemälde: eines davon zeigt zwei riesenhafte Statuen mit ägyptischer Kopfbedeckung, die sich stoisch auf steinernen Stühlen sitzend vom Wüstenwind umwehen lassen und teilweise hinterm Sand verschwindend geisterhaft erscheinen; eine phantastische Durchmischung von Elementen wie Farben, die natürlich nur vor Ort wirklich zur Geltung kommen kann. 


"Die Memnonskolosse im Sandsturm", Öl auf Leinwand, 100 x 152 cm, um 1896

War Diefenbach noch vor einem Jahrzehnt völlig unbekannt, drängt er sich nun mehr und mehr dem öffentlichen Kunstbewußtsein auf. Die pazifistische Attitüde, der Vegetarismus und die kommunalen Versuche in freier Liebe lassen ihn heute als einen Hippie-Avantgardisten erscheinen, dessen künstlerisches Potential gerade wieder entdeckt und besser eingeschätzt wird. Wir erfahren, dass zum Beispiel das Frankfurter Museum sein Interesse am oben beschriebenen Bild mit einem durchaus stattlichem Preis bekundete, nachdem dessen Mittel nach einer für den Sammler sehr günstig verlaufenen Auktion, aufgestockt worden sind.  

Zwischen den großformatigen hängen viele kleinere Bilder, deren Motive bereits vertraut sind: eine nackte Frau mit einer Schlange in der Hand, ein aus dem Nichts auftauchendes Gottesantlitz als Diefenbach-Lookalike und wieder viel Natur. Im Bildervergleich sieht man auch, dass der diffamierte "Meister des Nichtstuns und Trotzdem Lebens" mitunter tatsächlich gerne für sich arbeiten ließ: während die Statue des Jünglings im Vordergrund sich relativ selbstgleich bleibt, zeigt der Hintergrund nur oberflächlich betrachtet zwar dieselbe Gegend, welche aber, schaut man genauer hin, mit einer jeweils offenbar ganz anderen Maltechnik und höchstwahrscheinlich überhaupt von jemand anderem gemalt worden ist, was uns an barocke Werkstattgebräuche denken lässt. Wir erfahren, dass Diefenbachs rechter Arm infolge einer Typhuserkrankung dauerhaft verkrüppelt und beinahe lahm war; der junge Fidus wird also kaum der einzige gewesen sein, der bei der Verfertigung von Bildern mitgeholfen hat.  

Ausserdem bekommen wir viele Kataloge zu Gesicht, die meisten in deutscher, manche in italienischer Sprache und alle natürlich mit noch mehr Bildern; darunter ist zum Beispiel ein sehr schönes mit handgemachten Zierleisten versehenes und in die Länge aufklappbares Buch mit einer Abbildung des i. O. 68m langen Wandvries, welches aktuell zum großen Teil in der Hermesvilla, ansonsten aber in Hadamar, dem Gebursort Karl Wilhelm Diefenbachs - "einem der bedeutendsten Silhouettenkünstlers des 20. Jahrhunderts" (vgl. http://www.hadamar.de/) - zu bewundern ist oder eine relativ neue Publikation von Stefan Kobel: "Karl Wilhelm Diefenbach - Der Maler als Gesamtkunstwerk".

Einige Bilder sowie die Einladung weitere vor Ort zu sehen gibt es hier auf der Diefenbach-Seite der Sammlung Schmutz.

IG

In der Metaphysik lesen (984b 32 – 985a 11)


Vorläufige Vermutung, daß in der zuletzt gelesenen Passage, obwohl eigentlich nur ein paar Theorie-Vorläufer referiert werden, schon eine ganz wesentliche Aussage der hier „gesuchten Wissenschaft“ formuliert wird: der Sprung von rein materiellen Ursachen zu „höheren“ Ursachen, die zunächst mit dem Wort nous sehr hoch angesetzt werden, aber dann mit dem Vergleich „wie in den Lebewesen“ doch wieder einigermaßen „geerdet“ werden. Als würden nur „anorganische“ Ursachen durch „organische“ Ursachen ersetzt oder vielmehr ergänzt werden. Mit der Einführung dieser Ursachen werden wir einfach nur in die „Zoologie“ geführt, die als die Mitte des aristotelischen Weltbildes gilt. Auch die Art und Weise, in der das Verursachte benannt wird, welches die höheren Ursachen erfordert, ist nicht vorsokratisch-poetisch sondern aristotelisch-banal: das Gut-oder-schön-sein oder –werden der Dinge. Auf der Seite des Verursachten der Übergang vom Indikativischen zum Optativischen, auf der Seite der Ursachen der Übergang vom Anorganischen zum Organischen.

Kann das ein entscheidender Sprung in der bzw. zu der „Metaphysik“ sein? Erinnerung daran, daß in 982b 7f. „das Gute oder das Beste“ als Ursache in der „anfänglichsten Wissenschaft“ genannt worden ist. Eine ganz andere Stellung des Guten und auch eine andere Wortform: nicht das Adverb sondern das substantivierte Neutrum des Adjektivs – eine typisch platonische Form.

Jetzt aber fügt Aristoteles – immer noch die Ansichten der Vorsokratiker referierend – etwas hinzu, was man ihm gar nicht ohneweiteres zugetraut hätte bzw. was dem ihm unterstellten „Optimismus“ zu widersprechen scheint. Nämlich die Feststellung, daß es in der Natur nicht nur gute Dinge gibt, nicht nur Ordnung und Schönes sondern auch Unordnung und Häßliches, ja daß sogar die schlechten Dinge quantitativ über die guten, die häßlichen Dinge über die schönen überwiegen. Daß  mit „Ordnung“ und „Unordnung“ hier neue Wörter eingeführt werden, entspricht sehr wohl dem griechischen Denken. Wenn wir aber bedenken, daß die Griechen das Ganze nicht nur mit physis=Wachstum, Natur sondern auch mit kosmos=Schmuck, Welt benannten, dann mag es uns erstaunen, daß es in diesem Ganzen mehr Unordnung als Ordnung geben soll. Gibt es bei Aristoteles Äußerungen, die in diese Richtungen gehen? Denken wir an die Poetik, so erinnern wir uns daran, daß er nur solche literarischen Gattungen behandelt, die insgesamt mehr „Schlechtes“ enthalten: Tragödie, Komödie, Epik. Die überwiegend „positiven“ literarischen Gattungen (Hymnik, eventuell Lyrik) hat er nicht thematisiert.

Gesche Heumann erinnert uns daran, daß Aristoteles in 983a 1 einen Dichter mit der seinerzeit geläufigen Ansicht zitiert hat, daß „das Göttliche neidet“, sobald es Menschen allzu gut geht. Damals hat Aristoteles zwar diese Ansicht, mit der die gesuchte und vornehme Wissenschaft als menschenunmöglich dargetan werden sollte, abgewiesen. Diese Wissenschaft soll also nun doch möglich sein, aber sie muß sich, wir wir jetzt lesen, mit einem quantitativen Übergewicht des Schlechten über das Gute abfinden bzw. diesem gerecht werden. Dieses Übergewicht ergibt sich aus der zitierten Ansicht insofern, als es den Menschen entweder ziemlich schlecht geht, dann sind die Götter „zufrieden“, oder es geht ihnen ziemlich gut, dann stehen sie schon unter der Drohung göttlichen Neides. Das heißt: es kann ihnen auf Dauer gar nicht besonders gut gehen. Das wäre dann der griechische theologisch begründete „Pessimismus“.

Wir haben für das Vorkommen des Schlechten keine zusätzliche Ursache angenommen, weil wir die Ursache etwas neutraler als Liebe und Begehren gefaßt haben und die haben sozusagen automatisch immer auch die Kehrseiten Haß oder Abscheu. Aristoteles benennt aber die Ursache des Guten und Schönen nun mit „Freundschaft“, die Ursache des Schlechten mit „Streit“ oder abstrakter mit „dem Guten“ und „dem Schlechten“. Das heißt er kommt auf die „platonische“ Formulierung 982b 7f. zurück – verdoppelt sie aber dualistisch. Zwei entgegengesetzte Prinzipien, die formal an die altchinesische Polarität von Yin und Yang erinnern mögen, welche aber gerade nicht die Opposition gut-schlecht enthält. Eher könnte man an die beiden entgegengesetzten Gottheiten des Manichäismus oder der Gnosis denken: eine religiöse Konzeption der Spätantike, in die tatsächlich auch Platonismus eingeflossen ist.

Jedenfalls hat sich der Text mit dieser Formulierung von zwei höchsten Ursachen von der schlichten „zoologischen“ Ursachenlehre entfernt. Ivo Gurschler kritisiert an der gesamten Gegenüberstellung von Gut und Schlecht eine Eindeutigkeit, die gar nicht möglich sei; Einstimmigkeit sei über diese Unterscheidung ohnehin nicht zu erzielen.

Walter Seitter

Freitag, 17. Juni 2011

In der Metaphysik lesen (984b 23 – 984b 31)


Wir sprechen zunächst noch einmal über das zuletzt Gelesene, wo Aristoteles einigen „Vorsokratikern“ unterstellt (diesen Ausdruck verwendet er nicht, wohl aber in der Poetik den analogen Ausdruck „Vorhomeriker“), sie hätten nach den materiellen Ursachen, von denen einige sogar als „Beweg-Ursachen“ taugen (so jedenfalls das Feuer), doch andere Ursachen in Betracht ziehen müssen: nämlich Ursachen für Vorkommnisse, in denen andersartige Qualitäten eine Rolle spielen, und zwar Qualitäten wie „gut“ oder „schön“. Dasjenige, was andere Ursachen erheischt, das sind akzidenzielle Bestimmungen – und seien es auch Bestimmungen von Substanzen. Aber im Vordergrund stehen die akzidenziellen Bestimmungen: „gut oder schön sein oder werden“. Derartige immer wieder auftretende, höchst banale Sachverhalte erfordern andersartige oder wenn man will „höhere“ Ursachen als Erde oder Wasser oder Feuer. Und zwar deswegen, weil sie, trotz ihrer Banalität einer anderen Ordnung angehören als das Vorkommen von Eigenschaften wie „groß“ oder „rot“ oder „viereckig“. Diese Eigenschaften können wir „deskriptiv“ nennen, weil sie Korrelate einer puren Feststellung oder Deskription sind. Oder wir können sie „objektiv“ nennen, weil sie unabhängig von uns vorzukommen scheinen und von allen Beobachtern einhellig festgestellt werden. Oder „neutral“, weil es zu ihrer Feststellung, zu ihrer Gegebenheit keiner wunschartigen oder willentlichen Einstellung vonseiten eines „Subjekts“ bedarf. Die anderen Eigenschaften hingegen scheinen „subjektiv“ zu sein, weil sie dem einen einleuchten und dem anderen nicht, sie scheinen eine wunschhafte oder willentliche Einstellung zu erfordern oder an eine solche zu appellieren. Daher können wir sie „optativ“ oder „optativisch“ nennen: sie sind erwünscht, sie sind wesenhaft wunschbezogen.

Und was für eine Ursache erfordern derartige akzidenzielle Bestimmungen? Im ersten Moment scheint Aristoteles – immerzu jene Vorsokratiker referierend – zu sagen: Geist. Es wird aber sofort klar, daß er - bzw. die Vorsokratiker - die „Beseeltheit“ wie „in den Lebewesen (Tieren)“ meinen. Die Antwort läuft also auf Animalität hinaus – sei es im wörtlichen Sinn oder in einem analogen aber doch relativ engen Sinn.

Ich selber habe oben – innerhalb der deutschen Sprache argumentierend – von „wunschartig“, „willentlich“, „erwünscht“, „wunschbezogen“ gesprochen. Eine notwendige „Ursache“ (im aristotelischen Sinn und nicht die einzige) der genannten Eigenschaften sind also solche Fähigkeiten oder Kräfte wie „Wunsch“ oder „Wille“, bzw. wenn man sie nicht als isolierte Größen belassen will, Träger oder Inhaber solcher Kräfte – und die beginnen bei den Lebewesen: in gewissem Sinn bei den Pflanzen, die nur aufnehmen, was sie „brauchen“, und die das Aufgenommene verarbeiten, verwandeln usw.

Aristoteles nennt jetzt Hesiod (750-680), Bauer und Dichter, sowie den Philosophen Parmenides (540-480), die allerdings zeitlich weit auseinander liegen, wie auch beruflich. Der erste ist ein Dichter und zitiert wird aus der Theogonie, die für die Griechen ein ziemlich verbindlicher Text, nämlich die erste „systematische“ Aufstellung der Götter und sogar der „vorgöttlichen“ Instanzen war: die allerersten Instanzen seien: Chaos, Erde, Liebe (Eros), Eros als erster Gott und so auch bei Parmenides. Aristoteles hat diese Aussagen vorneweg schon so resümiert, daß er sagt, Liebe oder Begehren würde als erster Grund in den Dingen gesetzt. Es werden also diese Kräfte bzw. diese eine Kraft als selbständige Entitäten genannt, was für Eros plausibel klingt, weil er ja tatsächlich als Gott galt und in beiden Zitaten ausdrücklich als solcher und zwar als erster bezeichnet wird. Insofern geht der Text von einer eher abstrakten Geistlehre zu einer andeutungsweisen Zoologie über und dann zu einer Theologie. Die Einschaltung des Begehrens ist zur Not auch mit der Zoologie vereinbar, uns aber läßt sie eher an Humanpsychologie, also Anthropologie denken, als eigene Gottheit ist das Begehren jedoch bei den Griechen nicht aufgetreten.

Wir können also annehmen, daß Aristoteles den genauen ontologischen Status von Liebe und Begehren offen läßt und daß es ihm mehr um das Qualitative geht: das Wunschhafte.

Die Sphäre, die ab 984b 12 besprochen wird, enthält als Verursachtes das Wünschbare und als Verursachendes so etwas wie Wunschwesen, diese werden tendenziell in Richtung Lebewesen, Seele und Vernunft, in Richtung Zoologie, Psychologie, Anthropologie (und mit Hesiod auch: Theologie) konzipiert. Aber lassen wir diese hochtrabenden Disziplinbezechnungen und begnügen wir uns mit der Feststellung, daß die neue Sphäre, die anscheinend „metaphysische“ Ursachen erfordert, von sehr banalen optativen Situationen ausgeht.

Es wurde festgestellt, daß Aristoteles nur die „positiven“ Wunschqualitäten nennt. Wie steht es denn mit den konträren Qualitäten – also „schlecht“ oder „häßlich“? Eine Frage, die umso berechtigter erscheint, als etwas, was für den einen gut ist, für den anderen möglicherweise schlecht sein kann. Wenn etwas schlecht ist, braucht das dann auch eine andere, eine entgegengesetzte Ursache? Also nicht Wunsch oder Willen? Oder die Gegensätze zu den von Aristoteles hier genannten Ursachen: Gegensatz zu Liebe: Abscheu, Gegensatz zu Begehren: Furcht - ? Die von mir eingesetzten Begriffe Wunsch oder Wille erweisen sich hier als überlegen. Denn aufgrund dieser Fähigkeiten kann ein Lebewesen, ein Mensch das eine gut finden und das andere schlecht finden, also begehren oder fürchten. Wunsch oder Willen stehen für die Entscheidungsinstanz, die entweder „positiv“ oder „negativ“ ausschlägt. Diese Entscheidungsinstanz, die ich Wunsch oder Willen nenne, ist theoretisch gesehen „neutral“, praktisch gesehen jedoch die Trägerin, die Spezialistin für Nicht-Neutralität: begehren ist genauso nicht-neutral wie fürchten – nur eben in der anderen Richtung. Aristoteles hingegen setzt für den neutralen Entscheidungspunkt nous ein, und der klingt nun wirklich total neutral. Wenn ich „Wunsch“ oder „Willen“ einsetze, folge ich einer Theorielinie, die in der Moderne stärker geworden ist: bei Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Deleuze-Guattari.

Walter Seitter

Donnerstag, 9. Juni 2011

In der Metaphysik lesen (984b 17 – 984b 23)


Die „Sache selbst“ und die „Wahrheit“ werden von Aristoteles in die Theoriegeschichte als spezielle „Aktanten“ (Bruno Latour) neben den normalen Akteuren, nämlich den Theoretikern, eingeführt: ihr Agieren besteht in einem Einwirken auf die Theoretiker: sie führen, zwingen, treiben an – und zwar zum Weitersuchen. Es wird nicht gesagt, daß sie ihnen die „Wahrheit“ liefern, mitteilen, offenbaren. Sie geben ihnen „nur“ ein, daß ihre Erkenntnisse oder Lösungen unzureichend oder sogar fehlerhaft sind. Sie funktionieren also eher „falsifizierend“ als „verifizierend“ (nicht ganz in der eigentlichen Bedeutung); ein bißchen so wie das sokratische daimonion, das den Sokrates nur „negativ“ zurechtweist. Aristotelisch gesprochen ist die „Wahrheit“ hier eine Bewegursache, denn sie treibt an zum Weitersuchen; nicht eine Formursache, die „informiert“.
Daß mit der Wahrheit eher deren ontologische Fassung gemeint ist als die logische, wird durch die Lektüre des Artikels aletheia im Aristoteles-Lexikon von O. Höffe gestützt, der bestätigt, daß es bei Aristoteles beide Wahrheitsbegriffe gibt: Aussagewahrheit und Seinswahrheit, wobei die Seinswahrheit in gewissem Sinn von der Aussagewahrheit induziert wird. Nachdem es nun einmal die Aussagewahrheit gibt (geben kann: wenn jemand eine wahre Aussage macht), kann das Seiende selber als „wahr“ bezeichnet werden, bloß insofern es seiend ist.
Aber nun aufseiten der zu erkennenden Sachen, für die Ursachen aufzufinden sind. Welche Sachen oder Qualitäten erheischen andere Ursachen als das Feuer, dem ja innerhalb der materiellen Ursachen eine hohe Ursach-Kraft, etwa Beweg-Kraft zuzusprechen ist? Diese Realität, das ist das Gut- oder Schönsein (Sich gut oder schön verhalten) bzw. Gut- oder Schönwerden von irgendwelchen Dingen. Die Qualität „gut“ wird jetzt auf der Ebene der faktisch vorliegenden Realität angesetzt, für die Ursachen aufgefunden werden sollen – und nicht auf der Ebene der Ursachen bzw. der höchsten Ursache wie in 982b 7: das Gute, das Beste.
Jetzt geht es um irgendwelche, auch banale, Vorkommnisse des Gut- oder Schönseins oder –werdens. Alles Mögliche kann gut oder schön sein: das Essen, ein Wald, das Bad, ein Buch, ein Spaziergang, eine Tragödie (jetzt als Dicht-Werk), ein Mitmensch, ein Getränk. „Gut“ und „schön“ sind zwei Adjektive, die bei den Griechen die wichtigsten Wörter für diese Ebene von Qualitäten sind. Natürlich gibt es auch andere Eigenschaftswörter dafür: nützlich, angenehm, erfreulich, lieb, wertvoll, wichtig (?) ... Und wenn etwas gerade nicht gut oder schön ist, so kann es doch so werden: ein Aufsatz, den man schreibt, kann besser werden; eine Reise, die nicht besonders gut begonnen hat, kann erfreulich werden. Es geht hier gar nicht um etwas Ewiges, auch nicht um etwas Superlativisches. Sondern nur darum, daß die genannten Eigenschaften eine andere Ebene ausmachen als die Eigenschaften viereckig, naß, staubig, gigantisch ...
Die mit „gut“ und „schön“ bezeichneten Eigenschaften bzw. Sachverhalte bzw. Vorkommnisse (Aristoteles betont den Aspekt „Vorkommnis“) haben wir letzte Stunde von sogenannten „physischen“ oder „objektiven“ Eigenschaften wie rot, rund, klein, glatt ... abgehoben. Handelt es sich also um „psychische“ oder „subjektive“ oder gar um „metaphysische“ Eigenschaften? Wir sollten uns bemühen, dafür gute Allgemeinbegriffe bzw. Korrelationsbegriffe zu finden.
Und dann die Ursachen-Findung. Auf den ersten Blick scheint Aristoteles zu sagen, die zweite oder dritte Generation der Vorsokratiker habe den nous – also die Vernunft, den Geist – als Ursache für diese Art von Eigenschaften vorgeschlagen. Bei genauerem Zusehen meint er eher die Beseeltheit, die Animalität. Wie kann das verstanden werden?
Walter Seitter

Donnerstag, 2. Juni 2011

In der Metaphysik lesen (984a 17 - 984b 17)

Nun sagt Aristoteles selber, daß die Theoretiker, die nur eine Ursache materieller Art annahmen, sich damit nicht begnügen konnten. Oder vielmehr: er führt jetzt ein neues „Subjekt“, einen anderen Akteur in die Theoriegeschichtsschreibung ein: „die Sache selbst“, wies ihnen den Weg und nötigte sie, weiter zu suchen. Die Formulierung erinnert an die von Husserl ausgegebene imperativische Parole „Zu den Sachen selbst!“ und an den jetzt in Amerika ausgerufenen Turn zu OOO: Objekt-Orientierter Ontologie, zu der man im Internet einiges finden kann (wie Ivo Gurschler berichtet). Die Formulierung von Aristoteles „erinnert“ direkt an gewisse Äußerungen von Bruno Latour, der sich nicht bloß „für“ Objekte einsetzen will sondern behauptet, sie seien ohnehin – auch ohne uns – so etwas wie Akteure.

Läuft das auf „Animismus“ hinaus: alles ist beseelt und folglich auch tätig und kann „sogar“ mit echten Lebewesen – wie wir welche sind – kommunizieren, kollaborieren?

Dasjenige, dem Aristoles ein Einwirken auf hoch qualifizierte Lebewesen, nämlich griechische Theoretiker, zuspricht, das sind nun nicht exakt die Dinge selber, sondern „die Sache selbst“ – und das ist wahrscheinlich schon eine spezielle Schicht, nämlich die Tatsache, der Sachverhalt. Aber zweifellos eine Schicht ganz nah an den Dingen oder die Tatsächlichkeit der Dinge selbst. Und was tut diese Tatsächlichkeit? Sie weist den Weg, sie nötigt zum Weitersuchen – aber nur den, der schon angefangen hat zu suchen (und zu finden), denjenigen, der weiß, daß etwas nur von etwas her entstehen kann, und daß dieses zweite, nämlich ursächliche Etwas, eine bestimmte Qualität aufweisen muß, um die Kraft zu haben, das erste Etwas hervorzubringen: eine starke Ursachmacht: arche. So einem sagt oder eher wohl „zeigt“ die Statue, daß sie zwar aus Erz gemacht ist, aber ihr Dasein nicht nur dem Erz verdankt. Eine zusätzliche Ursache muß das Erz „bewegt“, veranlaßt oder wohl gezwungen haben, eine Statue zu werden.

Und in diesem Erkenntnisprozeß selber – also auf der „Metabene“ - sieht Aristoteles eben auch eine „zweite“ Ursache am Werk: neben dem Forscher die Sache selbst, also die Dinge in ihrem Erscheinen, in ihrem Sosein ... Diese Ursache scheint er als Bewegursache anzusehen, aber ist sie nicht auch die „Materialursache“ der Erkenntnis? Und welche Ursach-Rolle kommt dem Forscher zu?
Dem Erfordernis einer zweiten Ursache – auf der Objektebene – kommen nur diejenigen Materialisten nach, die mehrere (Material)Ursachen annehmen, etwa die vier Elemente; denn einem davon, dem Feuer, läßt sich plausiblerweise eine „kinetische Natur“ zusprechen, also eine Beweg-Kraft. Bezüglich der Entstehung der Erdoberfläche, der Kontinente, speziell der Berge, verlief etwa die Diskussion im 18. Jahrhundert zwischen Vulkanisten und Neptunisten, also zwischen Feuer- und Wasseranhängern, welche Diskussion laut Nicola Schössler auch in den Zweiten Teil des Faust eingegangen ist.

Doch auch diese differenzierenden Materialismen schienen nicht in der Lage zu sein, die Entstehung der „Natur der Seienden“ hinreichend zu erklären, und so sind die Forscher, seien es dieselben oder eben andere, „neuerdings von der Wahrheit gezwungen worden“, die „nächstfolgende“ Ursache zu suchen, wie meine Übersetzungen schreiben. Mein griechischer Text hat aber nicht erchomenen sondern echomenen – ein Druckfehler?

Jetzt „die Wahrheit“ als epistemologischer Akteur. Noch etwas weiter weg von den Dingen selbst als das pragma. Aber den logischen Wahrheitsbegriff wird Aristoteles doch nicht gebraucht haben, sondern einen anderen. Objektive Wahrheit als Subjekt? Jedenfalls meint Aristoteles, daß für das Gut- oder Schönsein oder –werden von irgendwelchen Dingen nicht einmal das Feuer als Ursache ausreiche, geschweige denn Zufall oder Ohngefähr (das sind die zwei „unnormalen“ Ursachenbereiche neben Natur und Kunst). „Höhere“ Qualitäten oder Realitäten brauchen höhere oder stärkere Ursachen.

Und als so eine stärkere Ursache wurde der nous – Vernunft oder Geist – eingeführt: als Ursache des Kosmos und seiner gesamten Ordnung, Ursache, die der Natur innewohnt wie jedem einzelnen Lebewesen. Diese Ansicht, die dem Anaxagoras zugeschrieben wird, von einigen auch schon dem Hermotimus von Klazomenai, läuft also – nach Aristoteles – offensichtlich auf einen Animismus im Großformat hinaus (sowie auf die Implikation, daß die Lebewesen, also auch die Tiere, eine Seele haben, die mit dem nous identifiziert wird). Nur so einer hohen Ursache wird zugetraut, den Seienden die Bewegung wie auch das Schönsein einzugeben. Darin liegt sicher nicht die Implikation, daß Bewegung etwas Unschönes oder Minderes sei. Eine Implikation, die ohnehin mit dem ganzen Anim(al)ismus unvereinbar wäre; denn Tiere sind nun einmal solche Wesen, die sich von sich aus bewegen können (wollen, müssen).

Der Animalismus, der uns hier als eine „vorsokratische“ Errungenschaft (der zweiten oder dritten Generation) vorgeführt wird, war übrigens das „theoretische“ Schlußwort der Poetik: Analogie zwischen Tier und Dicht-Werk.

Walter Seitter